Aufmerksame Beobachter der Genderbalance haben ausgerechnet, dass sechs von 18 Filmen im Wettbewerb von Frauen inszeniert wurden. Darüber hinaus gab es viele Filme, die Frauen in den Mittelpunkt stellten. So auch „Alpha“ von Julia Ducourneau, die vor drei Jahren mit ihrem zweiten Spielfilm „Titane“ Furore gemacht und die Goldene Palme gewonnen hatte. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an ihren neuen Film „Alpha“, eine Mutter und  Tochter-Geschichte, die in Le Havre spielt.

Die 13jährige Alpha (Mélissa Beros) wächst bei ihrer alleinerziehenden Mutter (Golshifteh Farahani) auf, bis eines Tages ihr Onkel auftaucht und das Leben der beiden durcheinanderbringt. Tahar Rahim spielt ihn als einen ausgemergelten Junkie mit eingefallenen Wangen. Die Mutter, die als Ärztin im Krankenhaus arbeitet, wird mit einer Epidemie konfrontiert, bei der die Haut ganz bleich wird und die Betroffenen marmorartig versteinern. Das sieht dekorativ aus, aber im Endstadium zerbrechen sie bei jeder Berührung. 

Offensichtlich hat Julia Ducorneau das Drehbuch während der Corona-Zeit geschrieben, wodurch der Film etwas verspätet wirkt. Nachdem Alpha sich hat tätowieren lassen, fürchtet ihre Mutter, sie könnte sich angesteckt haben. In der Schule wird sie von ihren Mitschülern gemobbt. Das Ganze ist in derart hysterischem Tempo inszeniert, dass es schwerfällt, den Figuren wirklich nahe zu kommen. Nach mehr als zwei Stunden hat man alles Interesse verloren und hofft nur noch, dass die Geschichte ein Ende finden möge.

Ähnlich ergeht es einem bei Carla Simóns „Romería“. Die 18jährige Marina (Llúcia Garcia) fährt nach Galizien, um ihren leiblichen Vater zu suchen. In Vigo trifft sie auf Angehörige ihrer Familie, mit denen sie seit Jahren keinen Kontakt hatte. In Barcelona bei Adoptiveltern aufgewachsen, hat sie die Tagebücher ihrer Mutter gefunden und macht sich auf die Suche nach den Orten, wo ihre Eltern gelebt haben. Nach und nach stellt sich heraus, dass ihr Vater und ihre Mutter in den wilden 80er Jahren in die Drogenszene abgerutscht und schließlich an Aids gestorben sind. Vorher sind sie angeblich noch in die Karibik gesegelt und haben aus Peru Heroin mitgebracht.

 Vor allem geht es Marina um den Nachweis der Vaterschaft, damit sie in Katalonien ein Stipendium beantragen kann, denn sie möchte Film studieren. Hier erschließt sich der persönliche Hintergrund des Films, der sich an die Biographie der Regisseurin und Autorin Carla Simón anlehnt. Schon in ihrem ersten Film „Estiu 1993“ (Fridas Sommer) hatte sie ihre Kindheitserlebnisse in Katalonien thematisiert. Mit „Alcarràs“ (Die letzte Ernte) gewann sie vor drei Jahren den Goldenen Bären auf der Berlinale. 

Entscheidend ist bei ihren Filmen, dass Katalanisch gesprochen wird, als wolle sie ein linguistisches Statement abgeben. Das ist in „Romería“ nicht ohne weiteres möglich, da Marinas Verwandte in Galizien nur Spanisch (Castellano) sprechen. Aber wenn sie aus dem Tagebuch ihrer Mutter aus den frühen 80er Jahren vorliest, dann auf Katalanisch. Kein Wunder, dass Carla Simón inzwischen so etwas wie das international erfolgreiche It-Girl des katalanischen Kinos und jetzt mit ihrem dritten Film in den Wettbewerb von Cannes eingeladen wurde.

Marina hält ihre Erlebnisse in Galizien mit einer Videokamera fest und man gewinnt den Eindruck, einer Art Home Movie der Regisseurin zuzuschauen. Das ist zu wenig für einen Film im Wettbewerb an der Croisette.

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