Sergeij Loznitsa, in Belarus geboren, aufgewachsen in der Ukraine, hat in Moskau Film studiert und lebt seit mehr als 20 Jahren in Berlin. Er kennt aus eigener Erfahrung das Ende der alten Sowjet-Union und die Unabhängigkeit der Ukraine. Seine Filme kreisen oft um historische Themen, dabei bewegt er sich regelmäßig zwischen fiktionalen und dokumentarischen Sujets.

In seinem neuen Spielfilm, „Two Prosecutors“ (Zwei Staatsanwälte), der in Cannes hervorragende Kritiken bekam, geht Loznitsa zurück in die Zeit der stalinistischen Schauprozesse. Vorlage war eine Erzählung des Physikers und Autors Georgi Demidow, der 1938 angeklagt und zu 18 Jahren Straflager verurteilt wurde.  Wir befinden uns im Jahr 1937. Dem jungen Staatsanwalt Kornew (Alexander Kusnezow) wird ein anonymer Brief zugestellt, in dem ein mit Blut beschriebenes Stück Pappe steckt. Darin bittet ein Gefangener um die Untersuchung seines Falls. Der Staatsanwalt beschließt, kraft seines Amtes unangemeldet das Gefängnis aufzusuchen. Bis Kornew im Film auftaucht, etabliert Loznitsa in langen Einstellungen den Gefängniskosmos mit seinen brutalen Haftbedingungen. Dabei übertreibt es das Casting etwas mit der Auswahl der Wärter, die physiognomisch so finster und grobschlächtig wie möglich aussehen. 

Der Direktor lässt ihn demonstrativ warten, bevor er zur nächsthöheren Instanz zugelassen wird. Dank seiner Hartnäckigkeit gelingt es Kornew, mit dem Gefangenen Stepniak (Alexander Filipenko) zu sprechen. Stepniak war früher ein hoher Parteifunktionär, der vom Geheimdienst NKWD als Konterrevolutionär angeklagt und gefoltert wurde. Er glaubt, dass es im lokalen Geheimdienst eine Verschwörung gegen die Sowjetmacht gibt, und rät Kornew, nach Moskau zu fahren, um an höchster Stelle über diese faschistischen Umtriebe zu informieren.

Tatsächlich schafft es Kornew, zum Generalsstaatsanwalt Wyschinski (Anatoly Beli) vorgelassen zu werden. Nachdem der ihm unbewegt zugehört hat, schickt er ihn zurück in die Provinz mit der Bitte um weiteres Beweismaterial. Spätestens als der junge Staatsanwalt in seinem Abteil auf zwei joviale Reisende trifft, die das dasselbe Reiseziel wie er haben, wissen wir, dass die Geschichte für Kornew nicht gut ausgehen wird. Eigentlich ahnen wir es schon sehr früh, denn im Gegensatz zu dem idealistischen Staatsanwalt wissen wir, dass es bei den Prozessen nicht um ‚sowjetische Rechtsprechung‘ ging, sondern dass die Angeklagten absurde Geständnisse ablegten, in der trügerischen Hoffnung, ihre Familien zu schützen oder sich selbst vor der Todesstrafe zu bewahren. Loznitsa gliedert den Film in vier lange Dialoge, mit dem Gefängnisdirektor, dem Gefangenen, dem Generalstaatsanwalt und den Reisenden im Zugabteil. Das macht das Erzähltempo etwas zäh. Denn wir wissen immer mehr als der Staatsanwalt und wundern uns, wie er noch so naiv sein kann.

2018 hatte Loznitsa das Thema der Schauprozesse schon einmal in dem Dokumentarfilm „The Trial“ (Der Prozess) behandelt. 1930, zu Beginn der stalinistischen Säuberungen wurden hochrangige Ökonomen und Ingenieure angeklagt, mit Hilfe der französischen Regierung einen Staatsstreich zu planen. Alle Anklagen sind erfunden, die Angeklagten beschuldigen sich selbst, das Ganze ist ein makabres Schauspiel, ein Schauprozess mit einem vorgefertigten Drehbuch.

Im französischen Film „Dossier 137“ von Dominik Moll ist die Protagonistin keine Staatsanwältin, sondern eine Inspektorin der Polizei, die für die Abteilung „Inspection générale de la Police nationale“ (IPGN), sozusagen die ‚Polizei der Polizei‘, überprüft, ob sich die Beamten bei ihrer Arbeit korrekt verhalten. Léa Drucker spielt die Inspektorin Stéphanie, die mit der Aufklärung eines Falls befasst, bei dem es um das Verhalten der Polizei bei den Demonstrationen der ‚Gilets jaunes‘ (Gelbwesten) Ende 2018 geht. 

Ein junger Demonstrant wird von einem Gummigeschoss (Flashball) so schwer verletzt, dass er eine Schädelfraktur erleidet und einen bleibenden Gehirnschaden davonträgt. Akribisch recherchieren Stéphanie und ihre Kollegen den Tatort und die Frage, welche Polizeieinheit dafür verantwortlich sein könnte. Sie stoßen schließlich auf Zivilpolizisten der Spezialeinheit BRI, die unprovoziert und aus kurzer Distanz auf den unbewaffneten Demonstranten geschossen haben. Bis ein belastendes Video auftaucht, leugnen die verdächtigen Polizisten jede Tatbeteiligung. Stéphanie wird von Vertretern der Polizeigewerkschaft beschimpft, sie solle sich lieber um Verbrechensbekämpfung kümmern als Kollegen in den Dreck zu ziehen.

An einem individuellen Fall gelingt es Dominik Moll, das vielfach brutale Vorgehen der Polizei bei den Demonstrationen der Gilets jaunes exemplarisch darzustellen. Die Polizei wie auch die Demonstranten sind individuell und differenziert gezeichnet. Léa Drucker beeindruckt ganz uneitel in der Rolle der Inspektorin und dürfte eine Favoritin für den Preis der besten Darstellerin sein. In Frankreich ist sie längst ein Star und hinterließ in Cannes vor zwei Jahren in Catherine Breillats Film „L’été dernier“ (Im letzten Sommer) einen starken Eindruck. Ich vermute, dass ein Grund für die Stärke und den internationalen Erfolg des französischen Films nicht zuletzt in einem funktionierenden Starsystem liegt. Anders als in Deutschland gibt es eine Fülle von Schauspielern/-innen in künstlerisch überzeugenden Filmen, für die das Publikum ins Kino geht.

Information

Erstellt

Festivals