Filmfestival in der Bäderstadt

Das 37. Internationale Filmfestival Karlovy Vary. Von Julia Helmke
Ein Filmfestival zu charakterisieren ist ähnlich schwierig und umstritten wie der Versuch, Tendenzen und Trends in der jeweiligen Wettbewerbsauswahl ausmachen zu wollen. Dennoch wird dies immer wieder unternommen, um die verschiedenen Filmfestivals voneinander zu unterscheiden und zu bewerten.

Formal handelt es sich beim Festival Karlovy Vary um die weltweit kleinste 'A-Filmleistungsschau', das heisst, es werden nur Filme für den Wettbewerb zugelassen, die noch an keinem anderen Filmfestival gezeigt wurden. Das Festival in der kulissenhaft schönen Bäderstadt nahe der deutschen Grenze hat ein junges und interessiertes Publikum. Die Atmosphäre wirkt entspannt, unkompliziert und professionell. Die Kinosäle, teilweise im Jugendstiltheater oder in den renovierten Grandhotels der Jahrhundertwende untergebracht, bieten einen reizvollen Rahmen für den stets präsenten Dialog von Ost und West zur Frage: "Was ist Europa, und wo lässt sich Tschechien verorten?"

Und inhaltlich? In Karlovy Vary sind Filme aus Mittel- und Osteuropa immer noch stärker vertreten als bei den grossen Filmfestivals und machen insgesamt einen Drittel der Wettbewerbsfilme aus. In den verschiedenen Sektionen sind aber zunehmend Werke aus Westeuropa, Afrika, Asien und vermehrt auch aus den USA vertreten. Von einer regional-politischen Richtung in der Auswahl der Filme reden zu wollen, wäre daher verfehlt.

Ein Leitmotiv, einen greifbaren roten Faden wollten sowohl der Festivalpräsident wie auch die Programmdirektorin nicht vorgeben. Beide umschreiben die Filmauswahl als Hoffen und Werben um eine sensible Wahrnehmung und um ein Verständnis für die gesellschaftlichen Vorgänge - man könnte hinzufügen - für die individuellen und gesellschaftlichen Tragödien und Katastrophen.

Einige Filmkritiker haben das genauer gefasst und als führendes Thema die Notwendigkeit einer bleibenden Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus erkannt. Nirgendwo in Afrika (Deutschland) von Caroline Link, Focus (USA) von Neal Slavin und Gebürtig (Österreich) von Lukas Stepanik setzen Akzente, die den ersten beiden Filmen Jurypreise einbracht haben. Gebürtig, nach der Romanvorlage von Robert Schindel und dem Drehbuch von Georg Stefan Troller, hätte mit seiner Darstellung des Balanceaktes der zweiten Generation jüdischer Überlebender zwischen Wiener Humor und Lebenswille einerseits und der bedrückenden, immerwährenden Präsenz des Holocausts andererseits ebenfalls einen Preis verdient.¹)

Eindrücklicher und prägender empfand ich jedoch das Motiv der „Familie“, das sich in vielen unterschiedlichen Facetten durch die Mehrzahl der Filme innerhalb und ausserhalb des Wettbewerbs zog. Auf offenkundige Weise ist die Reflexion über das "System Familie" auch in den beiden von der Ökumenischen Jury ausgezeichneten Filmen präsent.


Preis der Ökumenischen Jury für „Cisza“: Zwischen Vergangenheit und Gegenwart ²)

"Cisza", (englisch: 'Silence', im deutschen jedoch besser mit 'Stille, Ruhe' als mit 'Schweigen' übersetzt) beginnt mit dem Verlust einer Familie: Ein fünfjähriges Mädchen verliert bei einem Autounfall seine Eltern. Als erwachsene und beruflich erfolgreiche Frau begegnet ihr in einer Diskothek der Mann, der als kleiner Junge durch unglückliche Umstände diesen Unfall verursacht hat. Von Schuldgefühlen geplagt, fühlt er sich für das Leben der jungen Frau verantwortlich. Stellvertretend für sie, die in der Gegenwart lebt und die Vergangenheit negiert, hat er Fotografien und Gegenstände aus ihrem Leben gesammelt und ist zu einem ebenso kundigen wie fürsorglichen Biographen geworden. Zaghaft beginnt eine Annäherung der beiden, die stark an das Versteckspiel in La double vie de Véronique erinnert. Überhaupt ist der Aufbau und die Umsetzung der gesamten komplexen Handlung deutlich von der Handschrift des Drehbuchverfassers Krzysztof Piesewicz geprägt, dem langjährigen Mitarbeiter und Freund Krzysztof Kieslowskis. Mit ihm gemeinsam hat Piesewicz an Die Zehn Gebote - Dekalog oder auch an "Drei Farben: Blau-Weiss-Rot" gearbeitet. Mit Cisza hat er nun gemeinsam mit dem jungen Regisseur Michal Rosa den Auftakt zu einer achtteiligen Reihe The Stigmatised (Die Gezeichneten) vorgelegt.

Körperlich ist Mimi gezeichnet von einer kleinen Narbe am Hinterkopf und einer erblichen Sehschwäche, die aber erst bei ihrer kleinen Tochter zur Auswirkung kommt. Von beidem erfährt Mimi durch den Fremden, der sich, einmal gefunden, immer wieder entzieht und doch schliesslich ihr Geliebter wird. Szymon, der Fremde, ist einem Engel gleich, ohne eigene Biographie. Er begleitet sie auf ihren Schritten in die eigene Vergangenheit, spielt mit dieser, konstruiert sie neu und löst damit auch Veränderungen in der Gegenwart aus. Allerdings ist Szymon ein ambivalenter Engel: Der Bahningenieur und Lokomotivführer wird in dem Augenblick hilflos, als eine gemeinsame Geschichte beginnen könnte, verweigert die Zukunft und flüchtet. Cisza ist ein Film mit grossartigem Rhythmus-, Stil- und Farbgefühl, der eine ganz eigene Linie der polnischen Filmtradition fortführt.


Filament  (Lobende Erwähnung) - oder eine ganz normale Familie ³)

Eine unkonventionelle vierköpfige Familie bildet die Ausgangslage für Filament, dem neuesten Werk des japanischen Multitalents, Regisseurs, Komponisten und Fotografen Jinsei Tsuji, der von der Ökumenischen Jury mit einer speziellen Würdigung geehrt wurde. Die Mutter ist vor zehn Jahren mit einem jüngeren Mann weggegangen, der Vater verwandelt sich des Nachts immer wieder in eine Frau. Der Sohn, Filament, ein gutaussehender Mittzwanziger, weiss nichts mit sich anzufangen, wirft jede Arbeit nach einem Tag wieder hin, hängt mit seiner Clique ab, veranstaltet Mutproben und ist auch der Gewalt nicht abgeneigt. Etwas jedoch weiß er: dass er seine Schwester liebt und sie beschützen will, soweit nur irgend möglich. Die um wenige Jahre ältere Schwester arbeitet tagsüber im Fotogalerie-Cafe ihres Vaters, wandelt nachts im Schlaf und versucht sich vor ihrem Ex-Ehemann zu schützen, einem reichen Yakuza (Mafiosi).

Eines Tages kehrt die Mutter ohne jede Erklärung zurück. Sie bringt damit Bewegung in die stillschweigenden Vereinbarungen, die die verbleibenden Familienmitglieder über Jahre hinweg in ihrem Zusammenleben gepflegt haben. Filament weigert sich, seine Mutter wieder aufzunehmen, denn das würde gegen seine Normen und Gefühle von Recht und Unrecht verstossen. Eine andere Einstellung hat jedoch sein Vater, der sein Leben als Kunst und seine Travestie als Lebenskunst versteht und den Lebensunterhalt mit dem auftragsmässigen Fabrizieren von Familienfotografien bestreitet ("Einmal lächeln für das Album und für die Ewigkeit!"). Er hofft auf die vergebende und verbindende Kraft der Institution Familie. Die Tochter schliesslich offenbart, dass ihr Schlafwandeln eine Erfindung war, um die Fürsorge ihres Bruders zu erhalten, und weiss nicht mehr, was sie nun unter Familie verstehen soll. Nachdem das Familienfoto per Selbstauslöser geglückt ist, kommt eine neue Bewegung ins Spiel, die sowohl Tod wie Befreiung in sich trägt.

Tsuji stellt mehr Fragen, als dass er Antworten gibt. Seine genaue Beobachtungsgabe und sein exzellenter Einsatz von Musik, die zwischen Techno und Bach den Akteuren parallel wie kontrapunktisch folgt, schaffen trotz der Brüchigkeit der dargestellten Familie eine erstaunliche Geschlossenheit in Form und Inhalt. Filament ist ein sehr japanischer Film, jedoch mit internationalem Anspruch. Er verbindet in seiner Darstellung der Charaktere die Offenheit für verschiedene Lebensformen mit einem konservativen, traditionellen Bild von Familie.

 

¹) Gebürtig, Österreich/Polen/Deutschland/USA 2002, 15 Minuten, Regisseure: Lukas Stepanik/Robert Schindel. Darsteller: Peter Simonischek, August Zirner, Daniel Olbrychski, Ruth Rieser, Katja Weizenböck.

²) 2 Cisza (Silence), Polen 2001, 93 Minuten, Regisseur: Michal Rosa. Drehbuch: Krzysztof Piesewicz. Darsteller: Kinga Preis, Bartosz Opania, Irena Burawska.

³) Filament, Japan 2001, 93 Minuten. Regisseur: Jinsei Tsuji (ebenfalls Drehbuch, Kamera und Musik), Darsteller: Kinga Preis, Bartosz. Opania, Irena Burawska