Berlinale 2020 - eine Bilanz

Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek setzen neue Akzente

Das 70jährige Jubiläum der Berlinale fiel in das Jahr 1 der Post-Dieter-Kosslick-Ära. 18 Jahre hatte Kosslick die Berlinale geleitet und die letzten Jahre fühlten sich an wie das Ende der Ära Helmut Kohl. Die Atmosphäre war stickig geworden. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen die Stars, möglichst aus Hollywood. Über allem schwebte ein diffuser politischer Anspruch, bei der Filmauswahl galt gesellschaftliche Relevanz mehr als  künstlerische KriterienAuch mit den Preisträgern hatte man oft kein Glück. In den letzten  Jahren wurden Filme wie „Touch Me Not“ von der Rumänin Adina Pintilie (2018) oder „Synonymes“ von Nadav Lapid aus Israel (2019) mit dem Goldenen Bär ausgezeichnet, die später im Kino wie Senkblei untergingen.

Dieses Jahr agierten Carlo Chatrian, der neue künstlerische Leiter und die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek als neues Führungs-Duo angenehm zurückhaltend auf dem Roten Teppich. Die Anzahl an Filmen wurde auf 340 reduziert, der Wettbewerb auf 18 Beiträge abgespeckt, was jedem einzelnen ein Mehr an Aufmerksamkeit bescherte. Hinter all dem spürte man ein cineastisches Konzept.


Dazu kam, dass die klug ausgewählte Jury unter dem Vorsitz von Jeremy Irons intelligente Preisentscheidungen traf. Mit standing ovations war der iranische Film „Es gibt nichts Böses“ (Scheytan vojud nadarad) bei der Premiere gefeiert worden. Ähnlich enthusiastisch waren die Reaktionen, als der Film einen Tag später zum Gewinner des Goldenen Bären gekürt wurde. Schon zuvor hatte ihn die Ökumenische Jury mit ihrem Preis ausgezeichnet. Regisseur Mohammad Rassoulof konnte selbst nicht nach Berlin kommen, weil ihm sein Pass entzogen und er im Iran mit Arbeitsverbot belegt wurde. Es wirkt wie ein Wunder, dass es ihm trotzdem gelungen ist, diesen Film zu realisieren. In vier Episoden reflektiert er die Praxis der Todesstrafe und erzählt pointierte Geschichten von Menschen, die gefangen in einem moralischen Dilemma eine Entscheidung treffen müssen. Weniger ein politischer Film und auch keine Anklage des religiösen Regimes, als vielmehr eine universelle Frage nach Mut und Zivilcourage.


Auch Eliza Hittmans Independent Produktion „Never, Rarely, Sometimes, Always“ war einer der Favoriten für einen Hauptpreis und gewann am Ende den Großen Preis der Jury. Autumn, ein junges Mädchen im konservativen Pennsylvania, wird schwanger und fährt mit ihrer Cousine Skylar nach New York, wo ein Abbruch auch ohne Zustimmung der Eltern möglich ist. Die beiden Mädchen streifen ohne Geld und ohne ein Dach über dem Kopf durch die fremde, manchmal bedrohliche Stadt. In lakonischen, völlig unsentimentalen Bildern erzählt Regisseurin Eliza Hittman von den Ängsten und der Entschlossenheit der beiden Teenager, die am Ende ihr Ziel erreichen.


Den Italiener Elio Germano mit dem Silbernen Bär als bester Darsteller auszuzeichnen, war eine weitere Entscheidung, die großen Beifall fand. Mit unglaublicher Intensität spielt er den naiven Maler Antonio Ligabue, der als Kind einer italienischen Mutter in der Schweiz zur Welt kommt. Ein verspotteter Außenseiter, der sich kaum auszudrücken vermag. Obwohl er durch die Folgen einer Rachitis seit seiner Kindheit körperlich behindert ist, entwickelt er einen hartnäckigen Überlebenswillen. Nach Italien abgeschoben vegetiert Ligabue wie ein Tier in Höhlen und selbst gebauten Hütten am Ufer des Po bis ein Bildhauer sein künstlerisches Talent entdeckt. Festivalleiter Carlo Chatrian beschreibt den Film als „eine Hommage an eine bäuerliche Welt, die nicht mehr existiert. An eine bestimmte Art zu sprechen, auszusehen und miteinander umzugehen“. Eindrucksvoll verwandelt sich Elio Germano mit Hilfe einer prothetischen Maske in die Figur des malenden Clochards und lässt uns seine menschlichen Seiten entdecken.

 

Nachdem Christian Petzold vor zwei Jahren mit der Anna Seghers-Verfilmung „Transit“ leer ausging, war es nur recht und billig, dass diesmal Paula Beer, Protagonistin seines Films „Undine“, mit einem Silbernen Bär als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Die mythische Wassernymphe Undine kann nur durch die Liebe zu einem Mann menschliche Gestalt annehmen. Wird sie von diesem Mann verlassen, muss der untreue Liebhaber mit dem Tod rechnen. Bei Petzold ist Undine eine promovierte Historikerin, die im Märkischen Museum Vorträge zur Stadtgeschichte hält. Da Undine ein Geschöpf des Wassers ist, scheint es fast zwangsläufig, dass sie sich in einen Berufstaucher (Franz Rogowski) verliebt, der sie verehrt und ihr ewige Liebe schwört. Die märchenhafte Dimension der weiblichen Hauptfigur wird mehr behauptet als wirklich ins Bild gesetzt. Das Ergebnis ist eine Liebesgeschichte im Berlin von heute, die natürlich nicht gut ausgeht. Warum gerade in einem Stausee bei Lüdenscheid im Sauerland getaucht wird, bleibt rätselhaft wie so manches in diesem Film. Wie oft bei Christian Petzold erleben wir ein intellektuelles Konzeptkino mit unterkühlten Emotionen - das alte Dilemma der Berliner Schule.


Die beiden anderen deutschen Produktionen im Wettbewerb traten höchst ambitioniert an, um dann im Laufe des Films zu scheitern. Mit „Schwesterlein“ inszenieren die beiden Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond hochtouriges, selbstreferentielles Schauspielerkino. Lars Eidinger as himself, Theaterstar der Schaubühne mit 300 Auftritten als Hamlet, spielt Sven, den krebskranken Zwilling von Nina Hoss, die als Theaterautorin unter einer Schreibblockade leidet. In den geschmackvollen Interieurs eines Chalets in den Schweizer Bergen versucht die Schwester, dem kranken Bruder so gut es geht beizustehen, aber an seinem Narzissmus und Selbstmitleid prallt alles ab.

 

Burhan Qurbani hat in „Berlin Alexanderplatz“ den Stoff von Alfred Döblin konsequent in die Gegenwart verlegt. Sein Franz Biberkopf ist ein afrikanischer Flüchtling namens Francis, der irgendwo in Europa ans Ufer gespült wird und nach seiner wundersamen Rettung gelobt, ein besserer Mensch zu werden. Daraus wird natürlich nichts, weil er nach vergeblichen Versuchen mit ehrlicher Arbeit als Drogendealer in der Berliner Hasenheide landet. Sein böser Freund Reinhold, den Albrecht Schuch als irren Psychopathen spielt, lässt ihm keine Ruhe und bringt am Ende seine große Liebe Mieze, eine sehr blonde Jella Haase, aus purer Gemeinheit zu Tode. Der Film beginnt mit grandiosen Bildern, aber spätestens nach einer Stunde geht ihm die Luft aus. Die zwei weiteren Stunden schleppen sich mühsam dahin, Francis ist so naiv und arglos, das Deutschland, in das er gerät, so bösartig und abweisend, dass die Szenerie zur Karikatur wird. Regisseur Burhan Qurbani kämpft mit dem überlebensgroßen Schatten der Fassbinder Verfilmung und hat den unglücklichen Ehrgeiz, Dialoge aus Döblins Roman einzubauen. Das kann auf die Dauer nicht gut gehen.

 

Der beste deutsche Film lief übrigens in der Reihe „Berlinale Spezial“, man fragte sich, warum nicht im Wettbewerb. Vor einigen Jahren hatte Johannes Naber mit dem bösen Kammerspiel „Zeit der Kannibalen“ auf der Berlinale für Aufsehen gesorgt. Sein neuer Film „Curveball“ ist wieder mit Sebastian Blomberg in der Hauptrolle großartig besetzt. Dr. Wolf, BND Spezialist für Biowaffen, stößt in den 90er des vorigen Jahrhunderts auf Dar Salim (Rafid Alwan), einen irakischen Chemieingenieur, der streng geheime Informationen über Sadam Husseins Chemiewaffen-Programm zu besitzen vorgibt. Der Mann verlangt einen deutschen Pass, bevor er bereit ist, sein Wissen preiszugeben. Dr. Wolfs Vorgesetzte beim BND sind außer sich vor  Begeisterung, den Amerikanern endlich einmal eine Nasenlänge voraus zu sein. Doch nach dem Anschlag von 9/11 erweisen sich die fragwürdigen Informationen, die längst als Luftnummer entlarvt sind, als perfekte ideologische Munition für die Vorbereitung des Angriffs auf den Irak.

Was wie ein Politthriller klingt, inszeniert Johannes Naber als überdrehte Geheimdienst Farce mit feinem Gespür für groteske Zuspitzungen. „Curveball“ war einer der Höhepunkte dieser Berlinale, ein Film, der eine erfrischende Farbe ins deutsche Kino bringt und beunruhigende politische Fragen aufwirft. Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek haben der Berlinale mit einer klugen Filmauswahl neuen Schwung verliehen. Das Festival besinnt sich auf seine Stärken und hört auf, ständig nach Cannes und Venedig zu schielen. Das ist ein guter Anfang.