Politische Dramen

Kein Film wurde auf dem Festival derart emphatisch aufgenommen und mit einem rekordverdächtigen Applaus von 22 Minuten bedacht wie „The Voice of Hind Rajab“. Die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania rekonstruiert die letzten Stunden im Leben der 5jährigen Hind Rajab, die im Februar 2024 auf der Flucht vor der israelischen Armee in Gaza getötet wurde. Ausgangsmaterial sind die telefonischen Hilferufe des Mädchens, die im Rettungszentrum des Roten Halbmonds in Ramallah aufgezeichnet wurden. Der Film bringt das dokumentarische Material in eine dramatische Form, die Reaktionen und Dialoge der palästinensischen Helfer werden von Schauspielern nachgespielt.

Von Anfang an kennen wir das tragische Ende der Geschichte und erleben das qualvolle Warten auf die Genehmigung für den Einsatz eines Krankenwagens, die über das Rote Kreuz in Jerusalem von der israelischen Armee eingeholt werden muss. Über Stunden versuchen die Helfer das Mädchen zu beruhigen, das als einzige Überlebende im Auto ihres Onkels und dessen Familie gefangen ist. Als endlich ein Rettungsweg genehmigt, Grünes Licht für den Einsatz gegeben und der Krankenwagen fast am Ziel ist, bricht der Kontakt zu Hind Rajab wie zu den Sanitätern plötzlich ab. Die letzten, verstörenden Bilder des Films zeigen das von 335 Kugeln durchlöcherte Auto, in dem das Mädchen saß, und den ausgebrannten Krankenwagen mit den verkohlten Leichen der Rettungssanitäter. Es hat den Anschein, dass Hind Rajab und ihre Angehörigen wie auch die palästinensischen Sanitäter von der israelischen Armee gezielt ermordet wurden. 

Das Schicksal des Mädchens zeigt exemplarisch die Ohnmacht der Helfer im Gaza Krieg auf der einen wie die Brutalität des israelischen Militärs auf der anderen Seite. Ihr Tod steht stellvertretend für den Tod zehntausender Kinder in Gaza. „The Voice of Hind Rajab“, an dem Brad Pitt, Alfonso Cuarón, Joaquin Phoenix und Rooney Mara – die beiden letzteren waren in Venedig auf dem Roten Teppich - als ausführende Produzenten mitwirkten, wurde von der internationalen Kritik gefeiert. Die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania genießt international großes Ansehen und hatte zuletzt vor zwei Jahren in Cannes mit ihrer Dokufiktion „Olfas Töchter“ für Aufsehen gesorgt. Nur einige deutsche Kritiker hatten Probleme mit dem Film. Wolfgang Höbel sprach im SPIEGEL von einem „propagandistischen“ Film, Katja Nicodemus (Deutschlandfunk) fühlte sich „emotional in Geiselhaft genommen“ und meinte, der Film sei „pietätlos“ und gehöre nicht in den Wettbewerb, weil er die Jury unangemessen unter Druck setze.

Ein ganz anderer Film politischen Charakters ist Kathryn Bigelows „The House of Dynamite“. Die Ausgangslage ist einigermaßen absurd, eine Atomrakete wird auf die USA abgefeuert und niemand weiß, wer sie abgeschossen haben könnte. Die Nordkoreaner, die Russen oder Chinesen? Die USA, ein friedliches Land und Hort der Freiheit, bedroht von sinistren Feinden, die vor nichts zurückschrecken! Bigelow beleuchtet die Situation aus verschiedenen Perspektiven, die sich zum Teil überlappen, des Situation Rooms im Weißen Haus, einer Luftwaffenbasis in Alaska, des Büros des Verteidigungsministers und schließlich des Präsidenten, der die Entscheidung treffen muss, ob und wie man zurückschlagen soll. Idris Elba spielt ihn als Obama Verschnitt, der lässig mit Jugendlichen ein paar Körbe Basketball wirft, bevor ihn die Katastrophennachricht aus dem Spiel herausreißt. 

Seit ihrem Oscar Gewinner „The Hurt Locker“ (2008) und „Zero Dark Thirty“ (2012) weiß man, dass Kathryn Bigelow ein komplizenhaftes Verhältnis zum Militär und zur CIA pflegt. Immer geht es darum, entscheidende Informationen zu gewinnen, um eine unmittelbare Bedrohung abzuwehren. „The House of Dynamite“ ist rasant inszeniert, mit einer Tendenz zur Hysterie. In der Stunde der Not wird zuerst die eigene Familie angerufen, damit sie sich rechtzeitig in Sicherheit bringen kann, bevor 10 Millionen in Chicago eingeäschert werden. In den Dialogen wimmelt es von Abkürzungen, DEFCON 2 und NSCC werden aktiviert, GB1 und EGB verfehlen ihr Ziel, die gefährliche Rakete abzufangen. Am Ende muss der POTUS (President of the United States) entscheiden, wie man reagieren sollte. 

Das militärische Insider-Vokabular dient dazu, ein Maximum an Realitätsgehalt zu suggerieren. In gewisser Weise ist „The House of Dynamit“ ein Gegenentwurf zu „Dr. Strangelove“. Während Stanley Kubrick Anfang der 60er Jahre die paranoiden Atomkriegsphantasien des Pentagon realistisch überhöht, um sie satirisch zu entlarven, gibt es bei Kathryn Bigelow nichts zu lachen. Der visuelle Reiz, den „The House of Dynamite“ zweifellos besitzt, verdankt sich vor allem der Kameraarbeit von Barry Ackroyd und dem Schnitt von Kirk Baxter. Für die hysterische Inszenierung und die absurde Prämisse eines atomaren Angriffs sind Kathryn Bigelow und ihr Drehbuchautor Noah Oppenheim verantwortlich.

Mit Spannung wurde auf dem Lido auch Olivier Assayas‘ Politthriller „Le Mage du Kremlin“ (internationaler Titel: The Wizard of the Kremlin) erwartet. Um es vorwegzunehmen, er konnte die Erwartungen nicht erfüllen. Als Vorlage dient Guiliano di Empolis dokufiktionaler Roman „Der Magier im Kreml“, der den Aufstieg Wladimir Putins aus der Sicht seines Berater Wadim Baranow beschreibt. Das reale Vorbild für Baranow ist Wladislaw Surkow, der 2004 maßgeblich zu Putins Sieg bei den Präsidentschaftswahlen beigetragen hat. Surkow hatte am Moskauer Kulturinstitut studiert, wo er avantgardistische Theateraufführungen inszenierte bevor er in den wilden 90er Jahren des russischen Post-Kommunismus ein erfolgreicher Geschäftsmann wurde. Gemeinsam mit dem Oligarchen Boris Beresowski (Will Keen) bereitete er den Rücktritt von Boris Jelzin vor und half mit, den unbekannten Chef des Inland Geheimdienstes FSB, Wladimir Putin, als starken Mann der russischen Politik aufzubauen.

Surkow/Baranow arbeitete zuerst als Produzent für TV Shows, bevor er mit Hilfe von Beresowski die Kontrolle des russischen Staatsfernsehens übernahm. Als enger Berater und Spin Doctor Putins wird er zu einem der einflussreichsten Männer im Kreml. Ein neuer Rasputin an der Seite des Zaren Putin, so die Beschreibung der Figur von Surkow/Baranow im Roman, der der Film wortgetreu folgt.

Ein amerikanischer College Professor (Jeffrey Wright) kommt nach Russland und wird von Baranow (Paul Dano) in sein Landhaus außerhalb von Moskau eingeladen. Dort erzählt dieser ihm - und uns als Zuschauern - wie sich Russland nach dem Zerfall der Sowjet-Union entwickelt hat und wie es Putin gelungen ist, sein autoritäres System aufzubauen. Die Schilderung der politischen Ereignisse ist einigermaßen unterkomplex; es sind vor allem die Aktionen starker Männer, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen und die Politik des Landes bestimmen. Michail Chodorkowski, der im Film Dimitri Federow (Tom Sturridge) heißt, steigt vom Leiter der kommunistischen Jugend zum reichsten Oligarchen auf, bis Putin ihn verhaften lässt.

Jude Law, mit blonder Perücke, kriegt Putins Judoka Gang ganz gut hin, wirkt aber mit zusammengepressten Lippen eher wie eine Karikatur des ‚neuen Zaren‘. Schauspielerischer Höhepunkt des Films ist Paul Dano, der mit seinem rundlichen Gesicht und seiner sanften Stimme Baranow eine Art kindlichen Charme verleiht. Selbstredend sprechen alle Russen Englisch, um es den Zuschauern nicht zu schwer zu machen. Mal mit mehr, mal mit weniger östlichem Akzent, besonders ausgeprägt bei Alexander Saldostanow, dem Anführer der Nachtwölfe, einer nationalistischen Motorrad Gang, die Baranow als Unterstützer und Schlägertruppe rekrutiert. „The Wizard of the Kremlin“ suggeriert eine Kausalkette von politischen Manövern, die in logischer Konsequenz zu einer ständig verschärften 

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