Das iranische Kino ist im Wettbewerb von Cannes traditionell stark vertreten. Vor knapp 30 Jahren hatte Abbas Kiarostami mit „Der Geschmack der Kirsche“ (1997) hier die Goldene Palme gewonnen. In diesem Jahr waren zwei iranische Filme in den Wettbewerb eingeladen, die beide einen starken Eindruck hinterließen.
Trotz der Tatsache, dass er im Jahr 2010 wegen „Propaganda gegen das Regime“ zu einer sechsjährigen Haftstrafe und einem 20-jährigen Berufsverbot verurteilt wurde; war Jafar Panahi, ein früherer Assistent von Kiarostami, auf ausländischen Festivals nach weiterhin präsent. Mit „Taxi Teheran“(2015) gewann er in Berlin. sogar den Goldenen Bären. Panahis Filme waren heimlich gedrehte Home Movies, die er zuhause, im Auto oder in abgelegenen Gegenden realisierte und unter unterabenteuerlichen Umständen ins Ausland schmuggelte. Jetzt wurde das Urteil gegen Panahi aufgehoben, er darf wieder reisen und konnte mit seiner Frau und Tochter nach Cannes kommen.
Sein Film „Un simple accident“ (It was Just an Accident) ist ein unmissverständliches politisches Statement. Der Automechaniker Vahid glaubt in einem Kunden, der nach einem Unfall mit einem Hund in seine Werkstatt gekommen ist, denjenigen wiederzuerkennen, der ihn in der Haft gefoltert und sein Leben zerstört hat. Eghbal, der Folterer im Gefängnis, hatte ein Holzbein, genau wie der Kunde. Vahid entführt ihn und will ihn lebendig begraben, aber sein Opfer beteuert, es handele sich um eine Verwechslung. Schließlich nimmt Vahid Kontakt mit anderen auf, die damals mit ihm im Gefängnis waren. Es beginnt eine absurde Irrfahrt bei der sie sich bis zuletzt nicht sicher sind, ob sie den Richtigen gefunden haben.
Panahis Film wurde ohne offizielle Genehmigung gedreht, die Schauspielerinnen tragen kein Kopftuch und die politische Repression und Folter werden offen angesprochen. Allerdings leidet der Film an einer Dialoglastigkeit, so dass man beim Lesen der Untertitel kaum mitkommt. Auch die visuelle Symbolik ist manchmal etwas überdeutlich, wenn die Wüstenlandschaft, in der Vahid sein Entführungsopfer begraben will, mit einem dürren Baum an die ikonischen Bühnenbilder der Inszenierungen von Becketts “Warten auf Godot“ erinnert.
Dichter und dramatisch stärker wirkt dagegen „Woman and Child“ von Saeed Roustaee. Schon vor zwei Jahren war er mit „Leilas Brüder“ in den Wettbewerb von Cannes eingeladen. Damals hatte er im Iran Ärger bekommen, weil er seinen Film ohne Genehmigung in Cannes gezeigt hatte. Nach dem Festival wurden Roustaee und sein Produzent von einem iranischen Gericht schuldig gesprochen, „Oppositionspropaganda gegen das islamische System“ betrieben zu haben. Roustaee wurde zu neun Tagen Haft verurteilt, die restliche Strafe auf Bewährung ausgesetzt. Seinen neuen Film „Woman and Child“ hat Roustaee mit offizieller Genehmigung gedreht. In allen Szenen tragen die Frauen den vorgeschrieben Hijab.
Die 45jährige verwitwete Krankenschwester Mahnaz (Parinaz Izadyar) ist mit Hamid (Payman Maadi) liiert, der als Fahrer eines Krankenwagens von seinen Patienten überhöhte Pauschalen verlangt. Er will unbedingt heiraten, sie ist zögerlich und weiß nicht, ob sie ihm trauen kann. Zurecht, wie sich herausstellt. Denn als er bei ihrer Mutter um ihre Hand anhalten soll, entscheidet er sich kurz entschlossen für ihre 20 Jahre jüngere Schwester.
Als Mahnazs Sohn Alyar ums Leben kommt, dreht Mahnaz durch. Sie redet von Mord und sucht die Schuld bei ihrem Schwiegervater und der Schule, die ihn rausgeworfen hat. Der 14jährige Alyar, den wir als ein kleines Arschloch erlebt haben und der sich in der Schule unmöglich aufgeführt hat, wird von seiner Mutter posthum als unschuldiger Sohn verklärt.
Saeed Roustaee entwickelt eine spannende Familiendynamik, die sich in dramatischen Dialogen zuspitzt. Im Mittelpunkt stehen die Frauen, während die Männer wie Hamid oder der alte Schwiegervater sich als moralisch zweifelhafte Figuren entpuppen. Gleichzeitig erfährt man viel über die sozialen Verhältnisse in der Großstadt Teheran, das Gesundheitssystem und das Rechtswesen. Der Rechtsanwalt, den Mahnaz einschaltet, ist modern mit Krawatte gekleidet, nicht mehr mit dem traditionellen Stehkragen-Hemd der Islamischen Republik. Auf dem Roten Teppich traten die Schauspielerinnen außerordentlich elegant auf und trugen natürlich keinen Hijab. Die Protagonistin Parinaz Izadyar liefert eine grandiose Performance und dürfte zu den Favoritinnen auf den Darstellerpreis gelten. Peyman Maadi, der für „Nader und Simin – Eine Trennung“ (2011) von Asghar Farhadi in Berlin ausgezeichnet wurde, spielt einen charmanten Macho mit dunklen Seiten.