Wiederbegegnungen, Entdeckungen und Enttäuschungen

Chronik des 74. Festival de Cannes. Von Peter Paul Huth (2)
Titane (Julia Decournau)

Titane (Regie: Julia Ducournau, © Carole Bethuel)


CANNES 4

Das Festival neigt sich dem Ende zu. Mit entspannter Neugier wartet man auf die letzten Filme. Bis jetzt ist alles gut gegangen. Die katastrophischen Vorhersagen haben sich nicht bewahrheitet und Cannes ist nicht zu einem Corona-Hotspot geworden. Das Festival wurde auch nicht abgebrochen, wie man vorschnell in der deutschen Presse lesen konnte. Die meisten Teilnehmer sind ohnehin geimpft, beim Zugang zum Palais muss man seinen QR-Code oder Impfausweis vorzeigen. Alle anderen müssen sich testen lassen, wobei es unter Tausenden nur eine Handvoll positiver Fälle gab. Auch im Wettbewerb tauchte das eine oder andere negative Ergebnis auf, wie z.B. bei Wes Andersons mit Ungeduld erwarteter neuer Film, der schon für Cannes 2020 angekündigt war.


Disneyland Paris - Wes Andersons "The French Dispatch"

Wes Anderson ist in der texanischen Provinz aufgewachsen, in seiner Jugend war THE NEW YORKER für ihn wie die Bibel, sein Fenster zur Welt der Kultur. Schon in einem seiner frühen Filme, „The Royal Tenenbaums“, feierte er das kultiviert urbane Milieu inspiriert vom Geist der Zeitschrift. Jetzt geht es um die Sonntagsbeilage der fiktiven Zeitung ‚Liberty, Kansas Evening Sun‘ aus Kansas, die unter dem Namen ‚The French Dispatch‘ aus „La France“ berichtet.


Wir bewegen uns in einem imaginären Frankreich, angefüllt mit Versatzstücken aus Filmen, Comics, Kunst und Literatur. Schauplatz ist eine Stadt mit dem amüsanten Namen „Ennui-en-Blasé“, ein Paris, zusammengesetzt aus Filmkulissen und -zitaten. In „Grand Hotel Budapest“ hatte Anderson ein nostalgisches Mitteleuropa entworfen. Ähnlich bonbonfarben sind auch hier Kulissen, Ausstattung und Kostüme gehalten, manchmal auch in Schwarzweiß. Die Besetzung liest sich wie der Traum einer Casting Agentur - Bill Murray, Benicio de Toro, Tilda Swinton, Adrian Brody, Owen Wilson, Frances McDormand, William Defoe, Jeffrey Wright, Edward Norton, Timothée Chalamet. Plus eine Dosis französischer Stars wie Léa Seydoux, Mathieu Amalric, Cécile de France und Hippolyte Girardot. Alle haben mehr oder weniger kurze Auftritte in den bebilderten Artikeln der Zeitschrift. Benicio del Toro, der im Gefängnis zum genialen Maler wird, lässt sich von der Wärterin Lea Seydoux als Aktmodell inspirieren. Tilda Swinton tritt als schrille Museumsdirektorin auf, Adrien Brody als snobistischer Galerist. Frances McDormand begegnet den revoltierenden Studenten im Mai ’68, die vor allem auf der Suche nach l’amour sind. Bill Murray agiert als schrulliger Chefredakteur und Mathieu Amalric als Maigret-Verschnitt, der die Entführer seines Sohnes jagt.

Dieses zitatüberladene Disneyland geht einem - trotz großem Aufwand und inszenatorischer Raffinesse - nach einiger Zeit ziemlich auf die Nerven. Am Ende war es kein Wunder, dass „The French Dispatch“ als erster Film in der Pressevorführung ausgebuht wurde.

 

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Deutsche Filme?

Alle Jahre wieder taucht die Frage auf, warum gibt es keinen deutschen Film in Cannes? Zuletzt war es vor fünf Jahren, dass mit „Toni Erdmann“ eine deutsche Produktion an der Croisette reüssierte. Es bleibt ein Rätsel, warum deutsche Filme auf internationalen Festivals - Ausnahme Berlinale - nicht auftauchen. Liegt es an den undurchsichtigen Strukturen des deutschen Fördersystem? Am dominanten Einfluss von TV-Redakteuren in den Gremien, die wenig risikofreudig sind und in erster Linie an ihre Einschaltquoten denken? Oder investieren deutsche Filmstiftungen lieber in internationale Koproduktionen? Zwei davon haben es in den Wettbewerb von Cannes geschafft, beide mit dem französischen Star Léa Seydoux in der Hauptrolle.

Vor 32 Jahren gewann Ildekó Enyedi mit ihrem phantastischen Kinodebüt "Mein 20. Jahrhundert" in Cannes die "Caméra d'or". Jetzt hat sie den Roman „A feleségem története“ (The Story of My Wife) des ungarischen Autors Milán Füst verfilmt, der 1946 in Budapest erschienen ist und den Mythos der Fliegenden Holländers in die 20er Jahre überträgt. Ein Buch, von dem die Regisseurin schon in ihrer Jugend fasziniert war. Ein holländischer Schiffskapitän wettet mit einem Freund, dass er die nächste Frau heiraten will, die das Café betritt. Zu seiner Überraschung sagt sie zu.


Léa Seydoux spielt diese Frau, die sich bald als undurchsichtige femme fatale entpuppt und ihren Ehemann mit einem jüngeren Liebhaber, Louis Garrel als blasierter Society-Literat, betrügt. Ein Umzug von Paris nach Hamburg löst die Probleme nicht und macht den Kapitän nicht glücklich, vielleicht aber die deutschen Koproduzenten. In Hamburg dürfen mit Josef Hader, Ulrich Matthes und Udo Samuel ein Österreicher und zwei deutsche Schauspieler in Nebenrollen auftreten, wobei letzterer als Privatdetektiv dem eifersüchtigen Ehemann versichert: „Let me assure you, Sir, there is no such thing as an innocent woman!“ Der Holländer Gijs Naber hat eine starke Präsenz als betrogener Kapitän, das historische Setting ist überzeugend und kunstvoll in Szene gesetzt. Aber der Film ist mit einer Dauer von beinahe drei Stunden einfach zu lang. Am meisten vermisst man die subtile Charakterzeichnung, die in Ildikó Enyedis Berlinale Sieger „Body and Soul“ so begeistert hat. Hoffentlich geht sie für ihren nächsten Film zurück nach Ungarn.

Bruno Dumonts „France“ ist ganz auf Léa Seydoux zugeschnitten, die als TV-Star eine eigene Sendung hat. Mit kugelsicherer Weste und krisenerprobtem Kamerateam ist sie unterwegs in Kriegsgebieten von Nordafrika, um den heimischen Zuschauern dramatische Vor-Ort-Reportagen zu liefern. Anschaulich erlebt man wie das Fernsehen seine eigene Realität inszeniert. Einmal begleitet Léa Seydoux, die den symbolischen Vornamen France trägt, mit ihrem Team ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer, wobei sie vor allem aufpassen muss, dass ihr komfortables Begleitboot nicht ins Bild gerät. Soweit, so medienkritisch. Aber Bruno Dumont möchte von der Frau hinter dem TV-Star erzählen, die ihren Sohn vernachlässigt und mit Benjamin Biolay als mittelmäßig erfolgreichem Schriftsteller mehr oder weniger unglücklich verheiratet ist.


Dann wird der Film zu einer melodramatischen human interest story. France hat Probleme mit dem alltäglichen Zynismus ihrer Sendung und gerät in eine existenzielle Krise, was zur Folge hat, dass sie traurig schauen und viel weinen muss. In einem Schweizer Sanatorium begegnet sie Juliane Köhler - Achtung Koproduktion! - und wird Opfer eines skrupellosen Kollegen, der sich als Patient ausgibt, um eine Enthüllungsgeschichte über sie zu schreiben. Dass er sich dabei in sie verliebt und ihm alles furchtbar leid tut, darf man als gerechte Strafe verstehen. Er wolle nicht die Journalisten angreifen, sondern den Starkult und die industrielle Maschinerie, in die sie eingespannt sind, sagte Bruno Dumont in der Pressekonferenz. Allerdings passen die einzelnen Teile nicht so recht zusammen, das Ganze wirkt bemüht, und nicht sehr überzeugend. Wegen einer Corona-Quarantäne konnte Léa Seydoux, die in vier Filmen mitspielt, nicht nach Cannes kommen. So fiel ihr Starauftritt leider aus. Vielleicht sollte die deutsche Filmförderung in Zukunft mehr in eigene Produktionen investieren.

 

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Französische Highlights

Ein Drittel der Filme im Wettbewerb, insgesamt 30 in allen Sektionen des Festivals, kam in diesem Jahr aus Frankreich. Böse Zungen behaupten, ohne einen französischen Koproduzenten, Weltvertrieb oder wenigstens TV-Partner (Arte!), hätte ein ausländischer Film sowieso keine Chance in Cannes. Das könnte eine mögliche Erklärung sein, warum es keine deutschen Filme im Programm gab (s. CANNES 5). Es gab allerdings auch keine spanischen, lateinamerikanischen, tschechischen oder polnischen Produktionen. Dafür zwei skandinavische, darunter den Norweger Joachim Trier, der als Palmen-Kandidat hoch gehandelt wird. Andererseits ist Frankreich das stärkste und produktivste Filmland in Europa und Cannes eben ein Heimspiel.


Zwei französische Filme stachen im Wettbewerb heraus. Da war einmal „Titane“, ein Knaller, der mit spektakulären Genre-Elementen beim Publikum und der Kritik heftige Debatten auslöste. Alexia hatte als Kind einen schrecklichen Unfall und trägt seitdem eine Titan-Platte unter der Kopfhaut. Inzwischen erwachsen, tritt sie als Tänzerin bei Auto-Shows auf und hat einen fatalen Hang zur Gewalt. Bis sie eines Tages auf eine Anzeige stößt, in der ein vor 10 Jahren verschwundener Sohn gesucht wird. Sie trifft auf den Feuerwehrmann Vincent, genial verkörpert von Vincent Lindon, der in ihr seinen verlorenen Sohn zu erkennen glaubt.
Ab diesem Augenblick bekommt der Film eine beinahe biblische Dimension und beschreibt einen Weg voller Hindernisse, der von der Gewalt zur Versöhnung und Liebe führt. Am Anfang sehen wir Alexia mit einem Tattoo auf der Brust „Love Is A Dog From Hell“, die Bilder sind in scharfen Rot- und Gelb-Töne getaucht. In dieses mörderische Universum wird auch der Zuschauer hineingezogen. Später werden die Konturen weicher, die Schnitte ruhiger.
Julia Ducournau ist mit 37 Jahren die jüngste Regisseurin im Wettbewerb, souverän arbeitet sie mit Elementen von Videoclips und Horrorfilmen. Man darf gespannt sein, wie die Jury darauf reagiert. Ihr Debüt „Raw“ war vor jedenfalls vor einigen Jahren in Frankreich riesiger Erfolg.


Überraschend jugendlich wirkt auch „Les Olympiades“, der neue Film des Meisterregisseurs Jacques Audiard, der im 13. Pariser Arrondissement angesiedelt ist. Ein Kritiker sprach von einem romantischen Film in einem ausgesprochen unromantischen Viertel. Audiard hat Kurzgeschichten und Graphic Novels des Amerikaners Adrian Tomine zusammengefasst und in das 13. Arrondissement von Paris verlegt, das wegen seiner großenteils asiatischen Bevölkerung auch „Quartier asiatique“ genannt wird. Zugleich ist es das modernste Viertel von Paris, hier hat schon Le Corbusier in den 20er Jahren gebaut, die Silhouette ist geprägt von Hochhäusern und großen Wohnanlagen. Der Film konzentriert sich auf zwei junge Frauen und einen Mann, die ihren Weg im Leben suchen und sich mit verschiedenen Jobs durchschlagen. Emilie (Lucie Zhang), die aus einer chinesischen Familie stammt, sucht einen Untermieter und trifft auf Camille (Makita Samba), einen schwarzen Lehrer, der an seiner Dissertation arbeitet. Nora (Noémi Merlant), etwas älter als die anderen, kommt aus der Gegend von Bordeaux und möchte Jura studieren, aber landet wieder in einer Immobilienagentur. Die Lebens- und Liebeswege der drei Protagonisten sind locker verknüpft, es gibt jede Menge Sex, man verliebt und verletzt sich.

In den Filmen von Jacques Audiard geht es oft um Gewalt, mit der die männlichen Protagonisten versuchen, ihre Probleme zu lösen, zuletzt Joaquin Phoenix und John C. Reilly als Kopfgeldjäger in dem außergewöhnlichen Western „The Brothers Sisters“. Hier sind es vor allem emotionale Verletzungen, die Audiard unsentimental in Szene setzt. Der Regisseur habe sich im Alter von 69 Jahren neu erfunden, schrieb die französische Presse. Neugierig und einfühlsam, in überraschendem Schwarz-Weiß, blickt er auf ein modernes, sehr diverses Paris. Audiard hat drei Monate mit seinen Schauspielern geprobt, entsprechend entspannt und sicher agieren sie vor der Kamera. „Les Olympiades“ wird wohl nicht die Goldene Palme gewinnen, dürfte aber im Kino ziemlich erfolgreich sein.

 

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Meisterregisseure und Autorenfilmer

Wer einmal auf dem Festival erfolgreich war, darf davon ausgehen, immer wieder eingeladen zu werden. Man liebt die Autorenfilmer, les auteurs, und bleibt ihnen treu. Ein klassisches Beispiel ist der Italiener Nanni Moretti, der inzwischen acht Filme in Cannes gezeigt hat und sechs Mal im Wettbewerb eingeladen war. 2001 gewann er mit „Das Zimmer meines Sohnes“ die Goldene Palme, 2012 agierte als Präsident der Jury. Vor sechs Jahren gewann er mit „Mia Madre“ den Preis der Ökumenischen Jury. Morettis Filme sind meistens stark autobiographisch geprägt, gerne agiert er als sein eigener Hauptdarsteller.


Das ist anders in seinem neuen Film „Tre piani“ (Drei Stockwerke), bei dem er zum ersten Mal eine Romanvorlage, ein Buch des israelischen Autors Eshkol Nevo, adaptiert. Eine deutsche Übersetzung ist unter dem Titel „Über uns“ erschienen. Moretti verlegt die Handlung von Tel Aviv nach Rom und lässt die getrennten Geschichten des Romans ineinanderfließen. Er selbst spielt einen Richter, dessen Sohn betrunken eine Frau überfährt. „Sei un cretino morale!“, beschimpft er den Sohn und besteht darauf, dass auch seine Frau (Margherita Buy) allen Kontakt zu ihm abbricht. Ein Nachbar (Riccardo Scarmacio) hat Sex mit einer Minderjährigen und landet vor Gericht, eine andere Nachbarin (Alba Rohrwacher) versucht, ihren ständig abwesenden Ehemann mit seinem Bruder zu versöhnen.

„Tre Piani“ beeindruckt mit einer italienischen Starbesetzung und wurde bei der Gala mit minutenlangen Ovationen gefeiert. Trotzdem bleibt ein gewisses Gefühl der Enttäuschung, selbst bei dem Cannes-Reporter, der sich hier als langjähriger Nanni Moretti-Fan outet. „Tre piani“ will in zu knapper Zeit zu viel erzählen. Die Geschichten enthalten genügend dramatisches Potential, was sich aber bei einer Länge von zwei Stunden nicht entfalten kann. Zeitsprünge über mehrere Jahre verstärken ein Gefühl der Atemlosigkeit, vieles wird nur angerissen, was man gerne ausführlicher gesehen hätte.


Honour, Lies and Videotape

Ganz anders der Eindruck bei Asghar Farhadi, mit zwei Oscars - „Nader und Simin - Eine Trennung“ (2012) und „The Salesman“(2017) - der iranische Meisterregisseur par excellence. Mehrere Preise hat er für seine Filme in Cannes gewonnen, allerdings war „Offenes Geheimnis“, seine letzte in Spanien gedrehte Produktion, als Eröffnungsfilm vor drei Jahren eine Enttäuschung.

Für „Ghareman“ (A Hero) ist er in den Iran zurückgekehrt und hat zu alter Form zurückgefunden. Weil Rahim seine Schulden nicht zurückzahlen kann, sitzt er im Gefängnis. Während eines Hafturlaubs versucht er seinen Gläubiger durch eine Anzahlung zu besänftigen, doch der Versuch scheitert. Als er eine Tasche mit Goldmünzen, die seine Freundin gefunden hat, zurückgibt, wird er im Fernsehen und den Sozialen Medien als Held gefeiert. Nur um kurz darauf als Hochstapler und Betrüger niedergemacht zu werden.


Präzise und einfühlsam beschreibt Farhadi, wie mediale Aufmerksamkeit zu einem Teufelskreis wird und die Reputation des Protagonisten zu zerstören droht. Es gelingt ihm auch hier wieder, ein Bild des Iran zu zeichnen, dass weit entfernt ist von den Klischees westlicher Medien. In der Pressekonferenz sprach er über die Bedeutung des Konzepts der sozialen Reputation im Alltagsleben der iranischen Gesellschaft ist. Sein Film spart nicht mit subtiler Kritik an den Verhältnissen. Die Vertreter staatlicher Autorität, im Gefängnis wie bei der Stadtverwaltung, kommen nicht gut weg. Eine Wohltätigkeitsorganisation von Damen und Herren aus besseren Kreisen feiert zuerst die moralische Tat des Protagonisten, um ihn dann fallen zu lassen. Auch das heikle Thema der Todesstrafe kommt zur Sprache.

Farhadi ist ein Meister der psychologischen Inszenierung, seine Figuren gewinnen eine unglaubliche Intensität. „Was ich zeigten möchte, ist die Komplexität menschlichen Verhaltens“ sagt er in der Pressekonferenz. Dabei verliert er nie die größeren Zusammenhänge aus den Augen. „Wir sind ein Land zwischen Herablassung und Größenwahn“, meint er selbstkritisch.

„A Hero“ war einer der Favoriten für die Goldene Palme und gewann am Ende hoch verdient den Großen Preis der Jury. Auch sein Hauptdarsteller Amir Jadidi, der in Cannes als iranischer George Clooney gefeiert wurde, wäre für einen Preis in Frage gekommen. Wenn es so etwas wie cineastische Gerechtigkeit gibt, dann wird Ashgar Farhadi eines Tages als Gewinner der Goldene Palme gefeiert werden.