Klassiker
Krysztof Kieślowski: Przypadek (Der Zufall möglicherweise)


Wie auch Cannes hat Venedig vor einigen Jahren eine Sektion für historische Filme eingerichtet. Die Venice Classics zeigen restaurierte Werke aus den vergangenen Jahrzehnten und unterstreichen den Umstand, dass man die Vergangenheit des Kinos kennen sollte, um seine Gegenwart zu verstehen. Ergänzt wird die Reihe durch Dokumentationen über prominente Regisseure, Schauspieler, Autoren und andere Kreative aus der Welt des Films. So gab es u.a. ein Portrait der Hollywood-Schauspielerin Kim Novak, die in diesem Jahr mit einem Goldenen Löwen geehrt wurde.

Zwei Filme aus den 80er Jahren waren besonders spannend. „Przypadek“ (Der Zufall möglicherweise, 1981/1987) gilt als ein Meisterwerk des früh verstorbenen polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski und ist berühmt für seine experimentelle Erzählstruktur. Der Medizinstudent Witek (Bogusław Linda) rennt atemlos durch den Bahnhof von Łodz, um den Zug nach Warschau zu erreichen. Was dann geschieht, wird in drei Varianten erzählt. In der Variante 1 schafft er es, auf den fahrenden Zug aufzuspringen und lernt dort den Altkommunisten Werner (Tadeusz Łomnicki) kennen. Werner war im Zuge der stalinistischen Säuberungen interniert und nach jahrelangem Gefängnisaufenthalt 1956 rehabilitiert worden. Der idealistische Kommunist wird zu einer Vaterfigur für Witek, dessen eigener Vater gerade verstorben ist. Witek tritt in die Partei ein und wird als Nachwuchshoffnung gefördert bis er merkt, dass man ihn als Spitzel benutzt, um Oppositionelle auszuspionieren und zu verhaften. 

In der Variante 2 verpasst er den Zug, prügelt sich mit einem Bahnhofspolizisten und wird zu Sozialarbeit verurteilt. Dabei kommt er in Kontakt mit einem katholischen Priester und einer oppositionellen Gruppe aus dem Umfeld der Solidarnosc-Gewerkschaft. Eigentlich läuft alles gut, bis man ihn verdächtigt, Informationen über eine klandestine Druckerei an die Staatssicherheit geliefert zu haben.

In der Variante 3 verpasst er ebenfalls den Zug und konzentriert sich im Weiteren auf sein Medizinstudium. Er macht eine akademische Karriere und heiratet die Tochter des Dekans. Bemüht, sich aus der Politik herauszuhalten, will er weder in die kommunistische Partei eintreten noch eine kritische Erklärung unterschreiben. Sein Dekan bietet ihm an, ihn bei einem Vortrag in Libyen zu vertreten. Am Flughafen begegnet Witek Werner und weiteren Figuren aus den anderen Varianten. 

Wie wir seit der Anfangsszene wissen, explodiert das Flugzeug kurz nach dem Start. Für keine der drei Varianten gibt es ein glückliches Ende. Auf radikale Weise bringt „Der Zufall möglicherweise“ Kieślowskis Blick auf die menschliche Existenz zum Ausdruck und widerlegt alle Bemühungen, ihn in ein religiöses Weltbild einzuspannen, wie es manche Interpreten im Zusammenhang mit „Dekalog“, seinem Opus magnum, versucht haben. 

Über die Schlussszene meinte er in einem Interview: „Das Flugzeug wartet auf alle drei. Alle drei Leben gehen im Flugzeug zu Ende. Das Flugzeug wartet ständig auf ihn. Eigentlich wartet es auf uns alle“.

Die Regisseurin Agnieszka Holland, die mit Kiéslowski befreundet war, nannte „Przypadek“ „einen von Krzysztofs besten Filmen, vielleicht sogar den besten und originellsten“. Nach Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 wurde der Film verboten und durfte auch nicht im Ausland gezeigt werden. Freigegeben wurde er erst 1987 und in Cannes in der Reihe Un certain regard gezeigt. Die neue, restaurierte Fassung enthält die Szenen, die von der Zensur entfernt wurden.

Pedro Almodóvars Film „Matador“ wäre wohl auch ein Opfer der Zensur geworden, wenn er 10 Jahre früher entstanden wäre. Damals hatte Almodóvar gerade angefangen, Kurzfilme zu drehen. „Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón“ (1980) war sein erster Langfilm, sechs Jahre später folgte „Matador“ (1986). Nacho Martinez spielt den Torero Diego, der wegen einer Verletzung seine Karriere aufgeben muss und jetzt eine Stierkampfschule betreibt. Einer seiner Schüler ist der verklemmte Angel, Antonio Banderas in jungen Jahren, der von Schwindelgefühlen und Albträumen geplagt wird. Weil er Angst hat, als schwul zu gelten, versucht er vergeblich, Diegos Freundin Eva (Eva Cobo) zu vergewaltigen und zeigt sich anschließend selbst an. Assumpta Serna spielt seine Anwältin Maria Cardenal, die Männer zum Sex einlädt, um sie auf dem Höhepunkt der Lust mit ihrer Haarnadel zu erstechen. Ähnlich wie ein Torero beim Stierkampf.

„Matador“ entstand in den aufregenden Jahren des kulturellen Aufbruchs nach Francos Tod. Mit der Demokratie kam auch die sexuelle Befreiung, die Almodóvar in seinen Filmen feiert. Die Geschichten sind oft haarsträubend, geprägt von respektlosem Humor und wildem Sex. Almodóvar selbst hat einen kleinen Auftritt als schwuler Modedesigner. Man spürt den Geist einer radikalen Freiheit, die bis in den Tod geht. „Matador“ ist ein sehr spanisches Gemisch aus katholischer Moral - Angels Mutter ist eine Anhängerin des fundamentalistischen Opus Dei und schickt ihn erst einmal zur Beichte – unterdrückter Lust und schrankenloser Erotik. Eine filmische Erinnerung an Spaniens wilde 80er Jahre.

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