West-östliche Gefühlslagen
Silent Friend (© Lenke Szilagyi)

West

Es gab tatsächlich einen deutschen Beitrag im Wettbewerb von Venedig, „Silent Friend“, eine Koproduktion mit Ungarn und Frankreich, geschrieben und inszeniert von Ildikó Enyedi. In „Körper und Seele“ (2017), mit dem sie auf der Berlinale den Goldenen Bären gewann und für einen Oscar nominiert wurde, träumen die beiden Protagonisten gemeinsam von Rehen in einem winterlichen Wald. In ihrem neuen Film „Silent Friend“ geht die ungarische Regisseurin einen Schritt weiter. Jetzt sind es die Pflanzen, die miteinander kommunizieren und auf die Menschen reagieren.

Ein riesiger Gingkobaum im Alten Botanischen Garten der Universität Marburg verbindet drei historische Episoden. In der ersten kommt Tony Leung als Gastprofessor nach Deutschland. Während der Neurowissenschaftler in Hong Kong die Gehirnströme eines Säuglings untersucht hat, widmet er sich in Marburg dem verborgenen Leben der Bäume.

Im Corona-Jahr 2020, alleine auf dem menschenleeren Campus, untersucht der chinesische Forscher mit Hilfe digitaler Sensoren nicht nur die Innenwelt des Gingkobaums, sondern testet umgekehrt auch Wirkungen seiner eigenen Gehirnströme auf den Baum. Wie es sich für einen Chinesen gehört, praktiziert er, vom deutschen Parkwächter misstrauisch beobachtet, Tai Chi. Er kommt mit einer französischen Kollegin (Léa Seydoux) in Kontakt, die ihm männliche Samen schickt, da der weibliche Baum sich nicht alleine fortpflanzen kann. So weit, so pantheistisch spirituell. 

In der zweiten Episode des Films geht es handfester zu. 1908 wird Grete (Luna Wedler) als erste Studentin der Botanik an der Universität zugelassen. Vorher muss sie noch peinliche Fragen eines Gremiums frauenfeindlicher Professoren über sich ergehen lassen. Bei der Ausbildung in einem Fotoatelier entdeckt sie in den Blättern der Pflanzen „die geheimen Muster des Universums“. Auch sie wandelt einsam durch den Botanischen Garten.

Die dritte Episode führt uns ins Jahr 1972, in die politisch aufgewühlten Zeiten der Uni Marburg. Hannes (Enzo Brumm), ein Junge vom Lande, der keine Joints raucht und sich nicht am Sit-In der Germanisten beteiligt, verliebt sich in die schöne, politisch engagierte Gundula, die die Gefühlsströme einer Geranie misst. Als sie ihn fragt, ob er mit ihr schlafen will, ist er ganz verwirrt und weiß nicht, wie er reagieren soll. Man muss nicht wie ich in den 70er Jahren in Marburg studiert haben, um diese Episode unfreiwillig komisch zu finden. 

„Silent Friend“ hat mit seiner Spiritualität und Naturmystik viele Kritiker und Jurys begeistert, auch wenn man sich streckenweise wie in einer aufwendig gemachten Natur-Doku wähnt, zwischen sprießenden Knospen und meditativ gefilmten Bäumen. Luna Wedler wurde mit dem Marcello Mastroianni Preis als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet. Außerdem gewann der Film sowohl den Preis der INTERFILM-Jury als auch den der internationalen Filmkritik (Fipresci) sowie drei weitere Preise unabhängiger Jurys.

Albert Camus‘ Roman „L’Etranger“ (Der Fremde) gehört zu den großen Werken der Weltliteratur. Anfang der 50er Jahre wollte Gérard Philippe das Buch unter der Regie Jean Renoirs verfilmen, doch das Projekt scheiterte. 1967 realisierte Luchino Visconti eine filmische Fassung mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle. Jetzt hat François Ozon sich an den schwierigen Stoff gewagt und eine stilistisch konsequente Form gefunden. Camus, der in Algerien aufgewachsen ist, schrieb den Roman Anfang der 40er Jahre und schildert die Endphase der französischen Kolonisierung. 

Mersault (Benjamin Voisin), ein junger Mann, der in der Verwaltung arbeitet, erschießt am Strand von Algier scheinbar grundlos einen Araber. Die Tat ist eindeutig, aber es gibt kein Motiv, auch Mersault selbst kann im späteren Prozess keinen Grund nennen. Er ist ein Außenseiter, der seltsam teilnahmslos durch sein Leben geht. Auch als Marie (Rebecca Marder), die Frau, mit der er ein Verhältnis anfängt, ihn fragt, ob er sie liebt, weiß er keine Antwort. Man könnte den Mord als eine Metapher für die koloniale Dominanz Frankreichs über die arabische Bevölkerung verstehen. Eine Deutung, die der Film durch die Verwendung von historischen Archivaufnahmen nahelegt.

François Ozon schreibt in seinem Kommentar zu „L’Etranger“, dass der Gedanke an die Verfilmung des literarischen Meisterwerks Angst und Zweifel in ihm weckte. „Doch dann wurde mir sehr schnell klar, dass das Eintauchen in ‚L’Étranger‘ eine Möglichkeit bot, mich mit einem vergessenen Teil meiner persönlichen Geschichte zu befassen. Mein Großvater mütterlicherseits war Untersuchungsrichter in Bône (heute Annaba) in Algerien und entkam 1956 einem Anschlag, was die Rückkehr meiner Familie auf das französische Festland zur Folge hatte.“

Der Film spielt im Jahr 1938, doch eine Parole an einer Häuserwand deutet schon den Aufstand gegen die französische Besatzung an. Die Verwendung von Schwarzweiß-Bildern entspricht der historischen Epoche und gibt dem Film eine gewisse Strenge und kühle Distanz, die man als Zuschauer überwinden muss. 

Benjamin Voisin, der in Xavier Giannolis Balzac Verfilmung „Illusions perdues“ (Verlorene Illusionen, 2021) bei der Premiere in Venedig gefeiert wurde und im vergangenen Jahr in „Jouer avec le feu“ von Delphine und Muriel Coulin einen jungen Rechtsradikalen spielte, beeindruckt in der Rolle von Mersault durch seine emotionale Distanz. François Ozon beweist einmal mehr seine Virtuosität bei der Beherrschung unterschiedlichster Genres.

Ost

2003 schockte der südkoreanische Regisseur Park Chan-wook das Festival von Cannes mit seinem Film „Old Boy“. Ein Mann wird gekidnappt und jahrelang gefangen gehalten. Als er fliehen kann, hat er nur noch Rache im Sinn. Mittlerweile zählt Park Chan-wook neben Bong Joon-ho („Parasite“) zu den international bekanntesten koreanischen Regisseuren. Sein neuer Film „No Other Choice“ wurde in Venedig gefeiert und galt lange als Anwärter auf den Goldenen Löwe. Umso überraschender war es, dass er am Ende leer ausging.

„No Other Choice“ basiert auf dem Roman “The Axe” von Donald Westlake, der ursprünglich unter dem Titel „Le couperet“ (2005) von Costa Gavras verfilmt wurde. Park Chan wook verlegt die Geschichte nach Südkorea, wo sie perfekt funktioniert. Man-soo (Lee Byung-hun) arbeitet seit 25 Jahre in leitender Position in einer Papierfabrik. Als ein amerikanisches Unternehmen die Fabrik übernimmt, wird er entlassen. Jetzt kann er die Raten für sein Haus nicht mehr bezahlen, seine perfekte Existenz mit Frau, Kindern und Hunden gerät aus dem Gleichgewicht. Nachdem er bei einem Bewerbungsgespräch abgelehnt wurde, fingiert er eine eigene Firma, um seine Mitbewerber zu identifizieren. Für Man-soo ist klar, er hat ‚keine andere Wahl‘ und muss seine Konkurrenten aus dem Weg räumen. 

Park Chan-wook inszeniert diese Parabel vom Überlebenskampf auf dem Arbeitsmarkt nicht als Sozialdrama, sondern als schwarze Komödie mit makabren Slapstick-Einlagen. Wie auch in „Old Boy“ zieht sich der Protagonist einen schmerzenden Zahn mit der Zange. „No Other Choice“ besticht durch seine Komplexität und den gnadenlosen Blick auf die sozialen Verhältnisse. Ein Film, den man gerne ein zweites Mal sehen möchte.

Komplex ist auch der chinesische Wettbewerbsbeitrag „The Sun Rises on Us All“ (OT: Rì guà zhōng tiān) von Cai Shangjun. Lange bleibt der Film rätselhaft, bis sich der Kern der Geschichte allmählich herausschält. Meiyun (Xin Zhilei) ist schwanger, bei einer gynäkologischen Untersuchung im Krankenhaus sieht sie einen anderen Patienten. Um wen es sich handelt und woher sie ihn kennt, bleibt fürs erste unklar. Für ihren verheirateten Liebhaber kommt ihre Schwangerschaft zur Unzeit. Schon einmal hat er sie zu einer Abtreibung gedrängt, und aus Rücksicht auf seine Tochter wäre ein weiteres Kind gerade unpassend.

Im Krankenhaus trifft Meiyun den anderen Patienten wieder und hilft ihm auf, als er auf der Toilette zusammenbricht. Schließlich stellt sich heraus, dass es sich um ihren früheren Geliebten Baoshu (Zhang Sonwen) handelt. Vor Jahren hat er für Meiyun die Schuld an einem Verkehrsunfall auf sich genommen und eine längere Haftstrafe verbüßt, während sie ihn verlassen hat. 

„The Sun Rises on Us All“ ist ein unsentimentales Melodrama, souverän inszeniert und glänzend gespielt, bei dem es um Schuld und Vergebung, um betrogene Liebe und Wiedergutmachung geht. Während des Films war ich von der Art, wie Xin Zhilei sich zwischen unterschiedlichsten Gefühllagen bewegt, so beeindruckt, dass ich dachte, sie müsste den Darstellerpreis gewinnen. Und so kam es am Ende auch. 

„The Sun Rises on Us All“ spielt in der südchinesischen Provinz Shandong und zeigt auf quasi-dokumentarische Weise den Alltag im China von heute. Enge Wohnungen, Geldsorgen und überhebliche Männer. Eine Frau wie Meyin, die sich alleine durchschlagen muss, findet man auch in den Filmen von Jia Zhang-ke. 

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