Ödipale und andere Konflikte

Vor drei Jahren hatte Yorgos Lanthimos mit „Poor Things“ in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an seinen neuen Film „Bugonia“, einem Remake des südkoreanischen Films „Save the Green Planet!“ von Jang Joon-hwan. Während die Lanthimos Fans begeistert waren, sprachen italienische Kritiker von einem „Totalausfall“, Paolo Mereghetti im Corriere della Sera sogar von einer „cagata pazzesca“, was im Lexikon höflich mit „totalem Schwachsinn“ übersetzt wird. Michelle Fuller (Emma Stone), CEO eines Pharmakonzerns, wird von den durchgedrehten Verschwörungsfanatikern Teddy (Jesse Plemons) und Don (Aidan Delbis) entführt, weil sie sie für eine Außerirdische halten, deren Ziel es angeblich ist, die Erde zu zerstören. Wie sich im Laufe des Films herausstellt, geht es vor allem um Teddys Mutter, die wegen falscher Medikamentierung im Koma liegt, woran natürlich Fullers Firma schuld ist. 

„Bugonia“ ist einerseits ein schwerer Fall von ödipaler Fixierung, andererseits eine makabre Komödie für Arthouse Fans, die damit beginnt, dass Emily Stone die Haare abrasiert werden, damit sie keinen Kontakt zu ihrem ‚Mutterschiff‘ von Andromeda aufnehmen kann. Doch das ist erst der Auftakt zu weiteren Unappetitlichkeiten. Im Hintergrund schwingt die Opoid-Krise mit, bei der durch suchtauslösende Schmerzmittel mehr als 800.000 Amerikaner zu Tode kamen. Lanthimos macht aus diesem Gemisch eine Splatter-Geschichte, die an die Schmerzgrenze geht.

Ödipal fixiert ist auch Andor in „Orphan“ von László Memes. Budapest 1957, ein Jahr nach dem anti-sowjetischen Volksaufstand. Der 12jährige Andor hat einige Jahre in einem Waisenhaus verbracht hat, bevor seine Mutter ihn zu sich nimmt. Er ist auf der Suche nach seinem Vater, der während des Kriegs in einem Lager interniert war. Hartnäckig besteht er auf seinem jüdischen Namen Hirsch, während der neue Liebhaber der Mutter, ein grobschlächtiger Metzger namens Berend, behauptet, dass er sein Vater sei. 

Nemes, der mit seinem Debüt „Son of Saul“ auf Anhieb den Oscar als bester ausländischer Film gewann, betont die Kontinuität zwischen dem Holocaust und dem kommunistischen Nachkriegsregime, das ausschließlich aus stumpfen Bürokraten und brutalen Polizisten besteht. Dabei knüpft der Regisseur an Kindheitserfahrungen seines Vaters an. Trotz einer ermüdenden Länge von 2 ½ Stunden bleibt vieles unklar; so weiß man bis zuletzt nicht, ob der Metzger tatsächlich der Vater von Andor ist. Das mag beabsichtigt sein, erschwert aber den Zugang. Vor 40 Jahren ist es Marta Mészáros in ihrer autobiographischen Tagebuch-Trilogie (1984-1990), in der es auch um die Suche nach dem abwesenden Vater geht, gelungen, die ungarische Nachkriegsatmosphäre differenzierter einzufangen.

Auch in Gus van Sants „Dead Man’s Wire“ (Out of Competition) macht sich die Wut gegen die Reichen und Mächtigen auf gewaltsame Weise Luft. Tony Kiritsis (Bill Skarsgård) ist überzeugt, dass ihn das Kreditinstitut Meridian Finance bei einem Grundstücksdeal betrogen hat und ihn jetzt mit den Ratenforderungen ruinieren will. Eines Tages kommt er in die Vorstandsetage und entführt den Juniorchef Richard (Dacre Montgomery), indem er ihm einen Draht um den Hals wickelt, der mit einem Gewehr verbunden ist. Er fährt mit seinem Opfer in seine mit Sprengstoff präparierte Wohnung, wo er alles für das Kidnapping vorbereitet hat. Als die Polizei das Gebäude umstellt, verlangt er freies Geleit, eine Entschädigung für seinen finanziellen Verlust und eine Entschuldigung des Seniorchefs von Meridian Finance, den Al Pacino als hartherzigen Florida-Rentner spielt. 

Wie zu erwarten, eskaliert die Situation immer weiter, ein Profiler des FBI wird eingeschaltet, die Behörden gehen scheinbar auf Tonys Forderungen ein, um ihn bei der ersten Gelegenheit zu überwältigen. Vorher hatte er in einer live übertragenen Pressekonferenz seiner Wut noch einmal Luft gemacht und wird zu einer Art Volkshelden. Unwillkürlich denkt man an Brian Thompson, den CEO der Krankenversicherung UnitedHealthcare, der im Dezember 2024 in New York ermordet wurde. Der Täter, Luigi Mangione, wurde in den sozialen Medien ebenfalls als Held gefeiert.

Im späteren Gerichtsverfahren wird Tony wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen und kommt in eine psychiatrische Anstalt. Wie man im Abspann erfährt, wird Richard zum Alkoholiker, Meridian Finance verliert das Vertrauen seiner Kunden und meldet Konkurs an. Täter und Opfer finden nach der mehr als 60stündigen Geiselnahme nicht mehr in ein normales Leben zurück.

Der Film beruht auf einem realen Fall, der sich im Februar 1977 in Indianapolis ereignete und landesweit Schlagzeilen machte. Gus van Sant fängt den Gewaltakt des gescheiterten Investors, der sich um seinen persönlichen ‚amerikanischen Traum‘ betrogen fühlt, in nüchternen Bildern ein. Man bekommt das Gefühl, hier die Wurzeln des nationalen Wutausbruchs mitzuerleben, der Jahrzehnte später Donald Trump ins Weiße Haus gespült hat.

Information

Erstellt

Festivals