Starke Frauen, politische Sujets, religiöse Welten

Festivalbericht zu Locarno 2018. Von Dietmar Adler


In den Kirchen in und um Locarno beeindrucken große Bildprogramme die Besucherinnen und Besucher. Die Kirche Santa Maria della Misericordia in Ascona zeigt in ihrem Altarraum einen umfangreichen Freskenzyklus der Spätgotik. Jedes Bild lässt einen Film im Kopf entstehen, ein ganzes Filmfestival. Darunter auch das Bild von Ewa und Adam – die Menschen in ihrer Grund-Begegnung – und Grund-Entscheidung.

Das 71. Locarno Festival richtete im Jahr 1 nach #metoo seinen Fokus auf Begegnungen von Frau und Mann und insbesondere auf starke Frauengestalten. Feierlich wurde – dem Vorbild Cannes folgend - eine Erklärung für Gleichheit und Inklusion auf Filmfestivals unterzeichnet. „50:50 in 2020“ - bezogen auf die Filmschaffenden – wurde als Ziel ausgerufen.

Gerade der Internationale Wettbewerb zeigte große Frauenportraits. Allein fünf der fünfzehn Filme haben einen weiblichen Vornamen als Titel. Ob die Auswahl der Filme der programmatischen Vorgabe folge, wurde Carlo Chatrian, der künstlerische Leiter, im Gespräch mit der Ökumenischen Jury gefragt. Es habe sich so ergeben, seine Antwort. Das Programm sei nach und nach entstanden, Kriterium seien die Filme gewesen.


Starke Frauengestalten

„Sibel“ des türkisch-französischen Regie-Paares Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti ist der Gewinner des Preises der Ökumenischen Jury, ausgezeichnet auch vom Filmkritikerverband Fipresci und einer Jugendjury. Sibel (Damla Sönmez) ist Mitte 20. Sie lebt in einem Dorf in der türkischen Schwarzmeerregion, wo es gebirgig und grün ist und man von der Teeernte lebt. Sibel ist stumm, aber nicht taub. Sibel verständigt sich mit Hilfe einer in diesen Tälern überkommenen Pfeif-Sprache. Sibel ist anders, mit ihrer Beeinträchtigung verbinden sich Phantasien der Dorfbewohner. Sie wird im Dorf ausgegrenzt. Ihr Vater ist Bürgermeister. Weil Sibel anders ist, hat sie auch mehr Freiheiten als andere junge Frauen des Dorfes. Sibel verbringt viel Zeit im Wald, sucht dort nach einem geheimnisvollen Wolf. Sie trifft auf Ali, der sich im Wald versteckt. Zuerst kämpfen sie miteinander. Später ist es Alis Blick auf Sibel, der sie vom „Es“ zur Frau werden lässt. Es folgen Konflikte in der Familie und im Dorf. Aber Sibel hat sich verändert. Sie hebt den Blick, ist selbstbewusst, emanzipiert und verhilft auch anderen Frauen zu einem aufrechten Gang.


„Yara“ (Regie: Abbas Fahdel) spielt in den wunderschönen, fast paradiesisch anmutenden Bergen im Norden Libanons, ganz anders als das medial vermittelte Bild des Landes. Yara (Michelle Wehbe) ist ein junges Mädchen, sie lebt mit ihrer Großmutter irgendwo zwischen Himmel und Erde. Yara begegnet Elias. Eine unbeschwerte, fast scheue Liebesgeschichte beginnt. Aber das Paradies ist bedroht, als Elias ihr eröffnet, dass sein Vater ihn um besserer Chancen willen nach Australien holen möchte. Migration bedeutet immer auch: Menschen bleiben zurück. Und allein sind auch die schönsten Landschaften kein Paradies mehr. Viele Filme des Locarno-Wettbewerbs begleiten gerade junge Frauen auf ihrer Suche einer Identität, nach einem Standort im Geg


„Diane“ (Regie: Kent Jones) hingegen ist ein Portrait einer älter werdenden Frau (Mary Kay Place). Diane setzt sich mit ihrem Leben auseinander. Sie lässt ihre Beziehungen Revue passieren, agiert gegenüber ihrem zuerst alkoholsüchtigen, dann christlich-fundamentalistischen Sohn, begleitet eine Cousine in ihrer letzten Lebensphase, engagiert sich in einer Armenküche. Diane sucht – wie die jungen Frauen - ihren Ort. Die Handlung des Films erstreckt sich über mehrere Jahre, immer sind es winterliche Landschaften von Massachusetts, durch die Diane zwischen den Begegnungen fährt. Ein anderes New England als das Image vom Indian Summer. Im Winter ihres Lebens findet Diane Facetten ihrer Person. Anmutungen der Transzendenz scheinen auf. (Lobende Erwähnung durch die Ökumenische Jury)

Eine Herausforderung stellte der 14-stündige, ebenfalls im Wettbewerb präsentierte Film „La Flor“ des argentinischen Regisseurs Mariano Llinás dar. Der Regisseur gibt im Film selbst Hinweise zu seinen sechs inhaltlich nicht verbundenen Episoden, sie stellen eine Art Hommage an die Filmgeschichte und ihre Genres dar. Dennoch bleibt der Zusammenhang, der große Bogen des filmischen Fabulierens verborgen. Einzig die vier starken Schauspielerinnen, die in fünf Episoden zu sehen sind, geben die Idee einer Einheit.

 

Politische Dimensionen

In recht unterschiedlicher Weise gingen die Filme des Wettbewerbs die politische Dimension an. In „Sibel“ wird der Outcast von den Autoritäten als „Terrorist“ bezeichnet, so wie es in Türkei üblich geworden zu sein scheint. Das genügt schon als politische Aussage. Echten Terroristen widmet sich der deutsche Wettbewerbsbeitrag „Wintermärchen“ (Regie: Jan Bonny). Ein stark an die rechtsterroristischen Terrorgruppe „NSU“ erinnerndes Trio verliert sich in Aggressionen untereinander, Sex in verschiedenen Konstellationen und Mord-Touren gegenüber Migranten. Es gibt nicht einmal den Ansatz einer politischen Analyse entsprechender Phänomene. Und der Film zeigt wenig, was die die Personen und ihre Handlungen verstehbar werden lässt, was über den 25 Jahre alten Song „Schrei nach Liebe“ der Band „Die Ärzte“ hinausgeht, der am Ende des Films in einer Akustik-Version zitiert wird: „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe“. Nach Fatih Akins großartigem Film aus der Perspektive der Opfer war man gespannt auf den Blick auf die Täter. Für viele Beobachter ist „Wintermärchen“ nicht nur eine verpasste Chance, sondern auch ein ärgerlicher Film.

In „A Family Tour“ (Regie: YING Liang) treffen sich eine alt gewordene Mutter und ihre Tochter samt Kind und Ehemann. Die Familie stammt aus der Volksrepublik China, die Tochter muss als kritische Filmemacherin in Hongkong leben. Um einander begegnen zu können, bucht die Mutter eine Pauschalreise nach Taiwan, die junge Familie hat im gleichen Hotel eingecheckt und rast mit dem PKW zu den touristischen Orten, an denen die Busreisegesellschaft Halt macht, was eine gewisse Komik erzeugt. Der Film und seine Konstellation sind entlarvend für ein Land, in dem Bürgerrechte mehr als nur eingeschränkt sind.


Den Film „A Land Imagined“ (Regie: YEO Siew Hua) hielten sowohl die Internationale Jury (Goldener Leopard), als auch die Ökumenische Jury (Lobende Erwähnung) für außerordentlich gelungen. Der Film spielt in Singapur, wo Gastarbeiter bei der Landgewinnung arbeiten. Sie werden wie Sklaven gehalten. Ein Arbeiter fordert seinen Lohn und verschwindet. Ein anderer, Wang, wird getötet, er hatte die Leiche entdeckt. Nur Lok, ein ehrlicher Polizist, fängt an, nach ihm zu suchen. Der Film zeigt die Abhängigkeiten, zurück in ihre Heimatländer können die Männer nicht, sie sind beim Arbeitgeber verschuldet, zudem ohne Pass. Durch die Medien „Traum“ und „Internet-Spiel“ werden Zeit- und Raumebenen überblendet. So träumte Wang einst, dass Lok seine Ermordung erforschen wird. „Daraus entwickelt sich eine Reflexion über die Bedeutung von Grenzen, nationaler Souveränität und wirtschaftlicher Ausbeutung in einer globalisierten Welt sowie über die reale Möglichkeit der Solidarität zwischen Menschen aus verschiedenen Orten und Kulturen.“ (Aus der Begründung der ökumenischen Jury). YEO Siew Hua ist der für manche vielleicht überraschende große Gewinner des Locarno Festivals.



Gewalterfahrungen in religiösen Kontexten

Ein Dokumentarfilm war auch – völlig zu Recht - im Wettbewerb platziert: Die französische Regisseurin Yolande Zaubermann ist in ihrem Film „M“ volles Risiko gegangen: Sie vertraut ihrem Protagonisten Menachem Lang und seiner Geschichte. Und sie geht mit ihm mit. Lang war als Kind in einer kleinen jüdischen Gemeinschaft sexuell missbraucht worden. In dieser ultraorthodoxen Gemeinschaft von Haredim in der Nähe von Tel Aviv spricht man jiddisch, eine auch in Israel nicht weit verbreitete – weil aus der Zeit der Diaspora stammenden – Sprache. (Der seit Jahrzehnten erste Spielfilm in jiddischer Sprache, „Menashe“, der bei der Berlinale 2017 präsentiert wurde, spielt in Williamsburg, Brooklyn, Ney York). Als Menachem Lang seine Vergewaltigungs-Erfahrungen einst zur Sprache gebracht hatte, war er aus der Gemeinschaft und aus seiner Familie ausgeschlossen worden. Nun macht er sich wieder auf den Weg, sucht die Begegnung mit Menschen aus der Gemeinschaft. Und siehe da: die Menschen fangen an zu sprechen, artikulieren ähnliche Erfahrungen. Abgründe werden sichtbar. Schließlich begibt sich Lang mitten hinein in eine der ekstatischen Versammlungen der Frommen. Eine atemberaubende Reise - zwischen Erschrecken und Faszination.


Mit „Menocchio“ (Regie Alberto Fasulo) werden Verhaftung, Verhöre und Gerichtsverfahren des gleichnamigen, Ende des 16. Jahrhunderts der Ketzerei angeklagten norditalienischen Müllers auf die Leinwand gebracht. Menocchio stellte die christologischen Dogmen der Kirche in Frage, plädierte für einen einfachen Lebensstil. Ein großartiger Hauptdarsteller (Marcello Martini) und ein kunstfertiger Einsatz von Licht und Kamera beeindrucken. Es bleiben aber Fragen, ob die Figur nicht allzu sehr für das 21. Jahrhundert zurecht geschrieben wurde.


Einer der Stargäste des Festivals war der Schauspieler und nun auch Regisseur Ethan Hawke, der mit einem „Excellence Award“ ausgezeichnet wurde. Neben seiner Regie-Arbeit „Blaze“, ein Biopic über den jung verstorbenen Sänger Blaze Foley, stellte Hawke Paul Schraders „First Reformed“ vor. Hier spielt er den evangelisch reformierten Pfarrer Toller. Dieser mit sich selbst so strenge Mensch hat seinen Sohn verloren. Eine Frau aus der Nachbargemeinde sucht seine Nähe. Ein junges Paar besucht ihn, engagiert in der Umweltbewegung. Insbesondere der junge Mann verzweifelt an der Zerstörung der Natur durch große Konzerne. Zeitweise erscheint der Film als ein ins 21. Jahrhundert versetztes Remake von Ingmar Bergmans „Licht im Winter“ (1962), zudem lässt er an Robert Bressons „Tagebuch eines Landpfarrers“ (1951) denken. Reverend Toller macht sich schließlich den Einsatz für eine saubere Umwelt zu eigen und will anlässlich des Kirchenjubiläums seiner First Reformed Church ein spektakuläres Zeichen setzen.


Der selbst in evangelisch-reformierter Tradition aufgewachsene und geprägte Paul Schrader zeigt in diesem eindrücklichen Film die Strenge dieser Konfession mit ihrer hohen Authentizität, aber auch ihren ambivalenten Konsequenzen auf. Übertragbar ist das auch auf andere religiöse und ethische Orientierungen mit hoher innerer Verbindlichkeit. In Schraders Film-Welt bleibt eine Offenheit für Einbrüche anderer Wirklichkeiten.

 

Locarno Festival

Das Locarno Festival ist auch in seiner 71. Ausgabe ein Ort für Kino-Entdeckungen. Neben dem Internationalen Wettbewerb boten insbesondere die Semaine de la Critique mit starken Dokumentationen und eine Sektion mit ersten und zweiten Werken dazu Gelegenheit. Der abendliche Höhepunkt auf der Piazza Grande mit bis zu 8000 Besucherinnen und Besuchern ist dagegen cineastisch durchwachsen. Da werden starke Werke anderer Festivals präsentiert: Ethan Hawkes Blaze (Sundance) oder Spike Lees BlacKkKlansman (Cannes, Publikumspreis in Locarno), aber es kommen auch konventionelle Mainstreamfilme zum Einsatz.


Die Ökumenische Jury genießt eine hohe Wertschätzung auf dem Festival. Am eindrücklichen und inhaltlich durchdachten Ökumenischen Gottesdienst nahm auch der Festivalpräsident Marco Solari teil. Dieser eröffnete mit einem Grußwort auch den Ökumenischen Empfang, bei welchem Ingrid Glatz den hundert Gästen die Mitglieder der Ökumenischen Jury vorstellte. Und dass der künstlerische Leiter Carlo Chatrian sich für ein Gespräch mit Ökumenischen Jury (nach der Entscheidung!) Zeit nahm, ist mehr als nur eine Geste.

Emotional bewegend war dann am letzten Abend auf der Piazza Grande der Abschied von Carlo Chatrian, der Locarno in den letzten Jahren prägte. Er geht nun weiter nach Berlin, wo er die künstlerische Leitung der Berlinale übernehmen wird. Wir dürfen gespannt sein.