Die gefeierte Rückkehr des Kinos

Chronik des 74. Festival de Cannes. Von Peter Paul Huth (1)
Spike Lee, Jury President Cannes 2021

Spike Lee, Präsident der Internationalen Jury in Cannes 2021


CANNES 1

Cannes rief und alle kamen. Ein Gefühl kollektiver Euphorie lag in der Luft, als das Festival eröffnet wurde. Im vergangenen Jahr war es wegen der Pandemie zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg ausgefallen, und jetzt hatte man es vom Mai in den heißen Juli verschoben, was der Begeisterung keinen Abbruch tat. Als Thierry Frémaux, der künstlerische Direktor des Festivals, die Zuschauer mit seinem traditionellen „Bonjour à tous!“ begrüßte, klang er eindeutig enthusiastischer als in früheren Jahren. Nichts ist mehr selbstverständlich in Corona Zeiten, eingefahrene Rituale werden zu kostbaren Momenten wiedergewonnener Freiheit.

Zur Eröffnung führte Spike Lee, der erste afro-amerikanische Jury-Präsident des Festivals, der immer für eine Show-Einlage gut ist, seine weiblich dominierte Jury mit sicherer Hand über den Roten Teppich.

Lees Karriere hatte vor mehr als 30 Jahren in Cannes begonnen. Damals lief sein stylisches Debüt „She’s Gotta Have It“ in der Nebenreihe Quinzaine des Réalisateurs. Nola Darling leistet sich mehrere Liebhabern, einer davon, der Fahrradkurier Moses, wird von dem jungen Regisseur selbst verkörpert. Sein Film-Foto mit übergroßer Brille schmückt in diesem Jahr das nicht sehr einfallsreiche Festivalplakat. Zum Zerwürfnis mit Cannes kam es 1989, als sich Spike Lee mit seinem Film „Do the Right Thing“, als sicherer Gewinner der Goldene Palme sah. Dass am Ende ein junger weißer Regisseur, Steven Soderbergh, für sein Debüt „Sex, Lies and Videotape“ ausgezeichnet wurde, empfand er als rassistische Diskriminierung und schimpfte wütend:„We was robbed!“

Zur großen Versöhnung kam es vor zwei Jahren als sein Film „BlacKkKlansman“ auf dem Festival so beeindruckte, dass er den Großen Preis der Jury gewann. Seitdem sind Spike Lee und Cannes wieder ein Herz und eine Seele.

Aber es gab natürlich noch mehr Stars an diesem Eröffnungsabend. Jodie Foster wurde mit einer Golden Ehren-Palme ausgezeichnet und bedankte sich in derart perfektem Französisch, dass ihr Laudator Pedro Almodóvar, der als Spanier von Natur aus gehandicapped ist, was Fremdsprachen betrifft, seufzend bekannte, wie sehr er sie um ihr perlendes Französisch beneide. Schließend tauchte auch noch Bong Joon Ho auf, der Gewinner der Goldenen Palme von 2019, um zu dritt das Festival zu eröffnen.

Der Eröffnungsfilm „Annette“, entpuppte sich als seltsame Mischung aus Musical und Film Noir. Als hätte der französische Kultregisseur Leos Carax eine düstere Version von „La La Land“ im Sinn gehabt.


Marion Cotillard als gefeierte Operndiva verliebt sich in den aggressiven Comedian Adam Driver. Die ersehnte Tochter, Baby Annette, scheint nicht ganz von dieser Welt, ein hölzernes Bengele, die mit ihren roten Haaren wie eine Mischung aus Pumuckl und Pinocchio aussieht. In einer stürmischen Nacht auf ihrer Yacht stößt der betrunkene Comedian, dessen Karriere gerade den Bach hinuntergeht, die schöne Opernsängerin über Bord. Als Wasserleiche wird sie ihn bis in seine Träume verfolgen, während ihre Stimme auf wundersame Weise in Baby Annette gefahren ist. Adam Driver zeigt eine mutige Performance. Er ist hier nicht mehr der nette Busfahrer aus „Paterson“ oder der couragierte FBI-Agent, der den Klan infiltriert. Nein, er ist betrunken und neigt zu Gewaltausbrüchen, beeindruckt aber immerhin mit bemerkenswertem Six-Pack. Da wir uns in der Welt eines Musicals befinden, wird wenig gesprochen und viel gesungen. Ausgedacht haben sich die wilde Geschichte die Brüder Ron und Russell Mael, besser bekannt als Band „Sparks“, die auch für die Musik zuständig sind. Anfangs schaut man fasziniert zu, aber die Szenerie wird im Laufe des Films immer bizarrer. Entsprechend ratlos kamen die meisten Kritiker aus dem Kino, während die französische Presse zwischen überschwänglicher Begeisterung und gnadenlosem Verriss gespalten war.

 

CANNES 2

Alle sind genervt von dem umständlichen Online-System, über das man Tickets für die Vorstellungen reservieren muss, inclusive der Pressevorführungen. Spontane Entscheidungen und plötzlicher Sinneswandel - das war einmal. Es gibt auch keine Pressefächer mehr, in denen man unnützes Papier, aber auch ausführliche Informationen finden konnte. Selbst den Festivalkatalog muss man jetzt kaufen.

Trotzdem hält die die Begeisterung der Eröffnung weiter an. Von Festivalmüdigkeit keine Spur. Das liegt vor allem an einer Reihe herausragender Filme, die in den ersten Tagen zu sehen waren.

Wie das neue Werk von François Ozon „Tout c’est bien passé“, ein Drama über Sterbehilfe und eine komplizierte Vater-Tochter-Beziehung. André Dussolier, ein Schauspieler, den man immer für seine Eleganz in zahlreichen französischen Filmen bewundert hat, landet nach einem Schlaganfall hilflos im Krankenhaus. Seine Töchter Emmanuelle, die er Manue nennt, und Pascale kümmern sich um ihn, obwohl er sie als Vater offensichtlich vernachlässigt hat. Weinerlich und selbstmitleidig klagt er über Schmerzen und sein schweres Schicksal. Das ist kein standesgemäßes Leben mehr für André, den gut betuchten Unternehmer, Kunstsammler und Bayreuth-Besucher. Dussolier ist grandios in der Altersbosheit, mit der er seine Töchter schikaniert.


Sophie Marceau, brillant als Manue, hält tapfer dagegen, sie war immer die Lieblingstochter ihres Vaters, auch wenn sie ihm manchmal den Tod gewünscht hat. Eine bittere Ironie, dass sie den Wunsch jetzt in die Tat umsetzen soll. Sie kontaktiert eine Agentur in der Schweiz und trifft sich mit Hanna Schygulla, die (in perfektem Französisch) alles in die Wege leiten wird. Die zweite Tochter, Pascale, gespielt von Geraldine Pailhas, die vor acht Jahren in Ozons „Jeune et Jolie“ ("Jung und schön") in Cannes beeindruckte, interessiert den Alten nur noch als Mutter seines Enkels. Für dessen musikalischen Auftritt lässt er sogar das Datum seines Suizids in der Schweiz verschieben.

François Ozon, der eigentlich noch nie einen schlechten Film gemacht hat, inszeniert dieses familiale Drama um Sterbehilfe ohne einen Anflug von Sentimentalität. Im Gegenteil, die Dialoge sind aufgeladen mit ironischer Schärfe, wenn z.B. André schockiert über den Preis von 10.000 Euro seine Tochter fragt, „Wie machen es die Armen?“ Worauf sie trocken antwortet, „Die warten einfach bis sie sterben." Genauso ironisch ist der Titel, der beruhigend versichert „Alles ist gut gelaufen“.

Auch in Joachim Triers „The Worst Person on Earth“ geht es um das Sterben, aber erst ganz am Ende. Vorher dreht sich alles um Julie (so lautet auch der englische Titel). Nach dem Abitur in Oslo probiert sie alles Mögliche, zuerst Medizin, dann Psychologie mit der Begründung „Ich interessiere mich eigentlich mehr für den Geist als für den Körper“. Darauf folgt ein Fotokurs und schließlich ein Job in einer Buchhandlung. Sie lernt Aksel kennen, einen erfolgreichen Cartoonisten, dessen sexuell aufgeladene Geschichten Feministinnen auf die Palme bringen. Im Grunde ist er ein netter Kerl, der Skrupel hat, sich auf eine Beziehung einzulassen, weil er 15 Jahre älter ist als sie. Schließlich zieht man doch zusammen, scheitert aber an der Frage, ob man Kinder haben möchte. Er wäre bereit, aber sie nicht. Auf einer Party lernt Julie Eivind kennen, verliebt sich in ihn und trennt sich von Aksel. Aber auch diese Beziehung wird nicht halten.


Was wie eine banale Frau-zwischen-zwei-Männern-Geschichte klingt, entwickelt sich zur subtilen Charakterstudie einer jungen Frau, die ihren Weg ins Leben sucht. Eine Mischung aus Coming of Age und Romantic Comedy, die der Norweger Joachim Trier fern von konventionellen Hollywood-Mustern auf ganz überraschende Weise erzählt. Großartig ist die Szene, in der Julie den Lauf der Welt anhält, um quer durch die Stadt zu laufen und ihren neuen Freund zu küssen.

Was wie ein leichtes Sommermärchen beginnt, gewinnt im Laufe des Films immer mehr an Tiefe. „Like anyone else in their 20s, she is terrified of the terrible irreversibility of life choices“, wie Peter Bradshaw im GUARDIAN treffend schreibt. Renate Reinsve, die schon in früheren Filmen von Joachim Trier zu sehen war, begeistert in der Rolle der Julie und darf als starke Kandidatin für die Palme als beste Darstellerin gelten. „A star is born!“, um noch einmal Peter Bradshaw zu zitieren.

Wo bleibt der Tod? Er taucht erst am Ende auf, als der Film eine existenzielle Tiefe gewinnt, die man am Anfang nicht vermutet hätte.

 

CANNES 3

Religion und Sex in Zeiten der Pest

17. Jahrhundert, Pescia in Norditalien. Als kleines Mädchen wird Benedetta von ihren wohlhabenden Eltern ins Kloster gebracht. 18 Jahre später kämpft sie mit den Verlockungen des Fleisches. Im Traum erscheint ihr Jesus als Bräutigam am Kreuz, den sie so heftig umarmt, dass seine Wundmale sich auch bei ihr abzeichnen. Ein Wunder oder ein Fall von Blasphemie? Charlotte Rampling als Mutter Oberin ist misstrauisch. Als Benedetta, gespielt von der hinreißenden Virginie Efira, auch noch eine lesbische Affäre mit der impulsiven Novizin Bartolomeo beginnt, tobt der Kinosaal. Full frontal nudity - wie die Amerikaner sagen - soweit die Leinwand reicht! Sex hinter kompakten Klostermauern!


Paul Verhoeven, spätestens seit „Basic Instinkt“ berühmt als Meister cineastischer Erotik, geht diesmal weniger subtil zu Werke als bei seinem viel gefeierten Vorgänger „Elle“. In „Benedetta“ lässt er es ordentlich krachen. Die degradierte Oberin flieht nach Mailand, wo sie dem päpstlichen Nuntius von dem blasphemischen Skandal berichtet. Lambert Wilson, lüstern in gravitätischem Purpur, ist entschlossen, die göttliche Ordnung wieder herzustellen. Ohne es zu ahnen, schleppen sie die Pest ein, die sich in Florenz und Mailand längst ausbreitet. Nachdem man die Novizin nach allen Regeln der Kunst gefoltert hat, um das notwendige Geständnis zu erzwingen, kommt es auf dem zentralen Platz vor der Kloster zum Showdown. Benedetta soll wie Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Doch im letzten Augenblick wendet sich ihr Schicksal.

Auf der Pressekonferenz beklagte Verhoeven die zunehmende Prüderie im Kino. In Hollywood wäre „Benedetta“ wohl nie durch die Zensur gekommen. In Cannes waren die einen hingerissen von dem erotisch aufgeladenen spirituellen Drama, die anderen amüsiert von so viel offensichtlicher exploitation.

 

Once Upon a Time in New York

Für seinen Dokumentarfilm über die legendäre Art-Rockband „Velvet Underground“ ist Regisseur Todd Haynes ebenfalls in die Vergangenheit, genauer gesagt in das New York der 60er und 70er Jahre, eingetaucht. In raffinierter Split-Screen Technik, die perfekt zum Geist der damaligen Zeit passt und zugleich sehr modern wirkt, kombiniert er Interviews von Zeitzeugen mit historischem Archivmaterial. Im Zentrum steht natürlich Lou Reed, der schon als Schüler auf Long Island von einer Karriere als Rockmusiker träumte. Zusammen mit John Cale, dem klassisch ausgebildeten Avantgarde-Musiker aus Wales, bildete er als Sänger und Frontman das Rückgrat der Band.


Der Durchbruch gelang, als sie in der legendären Factory auftraten und Andy Warhol sich als Produzent engagierte. Er war es, der Nico als Sängerin rekrutierte, die wie eine nordische Göttin zwischen den schwarz gekleideten New Yorkern leuchtet. Man hasste die Musik und den Lifestyle der West Coast und vor allem Hippies. Musikalisch orientierte man sich an Rock’n Roll, Erik Satie und der minimalistischen Avantgarde. Todd Haynes evoziert das kreative Klima in New York, wo man in den 60er Jahren das Gefühl hatte, alles neu zu „erfinden“ - Musik, Literatur und Kunst, jedenfalls nach dem Selbstverständnis der Protagonisten, wie Jonas Mekas, dem Gründer der Filmmakers’ Cooperative, der ausführlich zu Wort kommt.

John Cale und die Schlagzeugerin Maureen „Moe“ Tucker berichten, wie Lou Reed zuerst die Verbindung zu Andy Warhol kappt, dann John Cale aus der Band wirft und unmittelbar vor einer großen Tournee schließlich selbst aussteigt, um später eine Solo-Karriere zu starten. Man gewinnt einen Eindruck von Lou Reed als einen Mann mit vielen Talenten, der als Musiker und Songwriter reüssiert, eine narzisstische Persönlichkeit mit charismatischer Ausstrahlung. Ohne einen Anflug von Sentimentalität portraitiert Todd Haynes die legendäre Band, die wie keine andere den Zeitgeist von Avantgarde und Rebellion in sich vereinigt und schließlich auch kommerziell erfolgreich ist.