In der Ökumene der Kinobilder

Die evangelische Kirche auf der Berlinale 2004

Einer der Gewinner der Berlinale stand schon vor Festivalbeginn fest. Für sein Lebenswerk wurde der argentinische Regisseur Fernando Solanas mit einem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet. "Solanas' Filme zeigen uns alle Aspekte Lateinamerikas: Trauer, Zorn und Kampf. Aber auch Leidenschaft, Musik, Humor und Schönheit. Sie führen uns die Lebendigkeit eines ganzen Erdteils vor, eine pLebendigkeit, die keine Diktatur ersticken konnte. All dies fängt er für uns in seinen Bildern ein." Mit diesen Worten rühmte Außenminister Joschka Fischer im ostberliner Kino International den Preisträger. Im Anschluss an die Ehrung fand die Uraufführung von Solanas' jüngstem Werk statt, des Dokumentarfilms "Memoria del saequo" (Geschichte einer Plünderung). In einer rhetorisch furiosen Montage prangert der Film ein Desaster der ökonomischen Globalisierung an, den Bankrott der argentinischen Wirtschaft und die Verelendung seiner Bevölkerung, Resultat einer nur den Interessen weniger dienenden und die Lebensbedingungen und Menschenwürde vieler ignorierenden Politik. In "Memoria del saequo" kann man die Enteignung eines reichen Landes verfolgen.

Mit der Ehrung Solanas' wurde auch das Engagement der evangelischen Kirche im Filmbereich belohnt. Der einzige deutsche Förderer seines Films ist der Evangelische Entwicklungsdienst (EED). Als Initiator bei der Entstehung oder als Ermöglichung der Fertigstellung eines Films aus den Ländern des Südens spielt diese finanziell nur bescheidene Förderung oft eine Schlüsselrolle. Sie wird organisiert durch das Evangelische Zentrum für entwicklungsbezogene Filmarbeit (EZEF), dessen Trägerschaft durch das Gemeinschaftswerk wahrgenommen wird – in enger Kooperation mit dem Filmkulturellen Zentrum des GEP, der früheren Abteilung Film und AV-Medien. Die nächste, nicht minder bedeutsame Stufe dieser Förderung wird in den Bemühungen um die Aufführung des Films von Solanas sei's in den deutschen Kinos, sei's im Fernsehen bestehen. So wird sich auch das Publikum jenseits des Festivals mit seiner düsteren, in der Solidarität mit dem Widerstand der argentinischen Bevölkerung dennoch ermutigenden Anklage auseinandersetzen können.

"Memoria del saequo" war nicht die einzige Produktion, mit der sich das EZEF auf der Berlinale schmücken konnte. Das Festival hatte Afrika zu einem Schwerpunkt quer durch all seine Sektionen gemacht. In diesem Rahmen fand im Programm des Internationalen Forums des jungen Films die Uraufführung von "Memories of Rain" starke Beachtung. Der dreistündige Dokumentarfilm von Gisela Albrecht und Angela Mai porträtiert eine Weiße und einen Schwarzen, die für den ANC und seinen Befreiungskampf im südafrikanischen Untergrund arbeiteten. Selten hat man einen weniger triumphalen Film über eine historisch siegreiche Befreiungsbewegung gesehen. Mit ungewöhnlicher Aufrichtigkeit und selbstkritischem Blick berichten die Journalistin Jenny und der Untergrundkämpfer Kevin über die Selbstverleugung, die der Kampf gegen die Apartheid von ihnen verlangte. Der Zuschauer gewinnt ein Bild von den Traumata, die das befreite Südafrika immer noch zu verarbeiten hat. Die EZEF-Förderung war die einzige Unterstützung für das sonst nur aus Eigenmitteln finanzierte Projekt. Sie hat ein einzigartiges Dokument über ein vom Tagesgeschehen und seiner unstetigen medialen Vervielfältigung schon wieder verdrängtes zeitgeschichtliches Ereignis ermöglicht. In "Memories of Rain" erweist sich der Film einmal mehr als Statthalter des Gedächtnisses in einer von Zerstreuung, Neuigkeit und Sensation dominierten Medienwelt. Wenn sich die Kirche als eine Gedächtnisgemeinschaft begreift, muss ihr an an einer solchen den Tageshorizont überschreitenden Kunstform gelegen sein.

Das Kinderfilmfestival der Berlinale steht im Schatten der anderen Festivalsektionen. Wer jedoch im überfüllten Zoo-Palast die Premiere eines Kinderfilms miterlebt hat, wird diese Unterschätzung nicht länger teilen. So ließ sich bei "Blindgänger" von Bernd Sahling, der Geschichte zweier Mädchen aus einem Blindenheim, die sich mit einem von Abschiebung bedrohten Jungen verbünden und mit ihm gemeinsam einen TV-Wettbewerb für Nachwuchsbands gewinnen, etwas von der Begeisterung für ein in der Öffentlichkeit selten gewürdigtes Genre erfahren. Der von der EKD geförderte Film erhielt von beiden Kinderfilmjurys (Kindern und Erwachsenen) eine Lobende Erwähnung. Nach seiner Kinoauswertung wird er in einer didaktisch aufbereiteten DVD von der Matthias-Film herausgebracht werden.

Diese drei Akzente im Programm der Berlinale ergänzten in diesem Jahr die schon etablierten kirchlichen Events im Festivalkalender. Auf dem ökumenischen Empfang der Kirchen stellt sich traditionell die Ökumenische Jury vor. Jurypräsident Werner Schneider-Quindeau, Filmbeauftragter der EKD von 1999 bis 2003, unterstrich die Bedeutsamkeit des kirchlichen Filmengagements auch angesichts schrumpfender kirchlicher Finanzen. Denn die Ökumene des Glaubens trifft im Kino auf die Ökumene der Bilder. Die kirchliche Jury verleiht Preise in den Sektionen Wettbewerb, Forum und Panorama. Ihr (undotierter) Preis für einen Film des Wettbewerbs ging an "Ae Fond Kiss" von Ken Loach, der bis zuletzt auch als einer der Favoriten für den Goldenen Bären betrachtet wurde. Loach erzählt die Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mann pakistanischer Herkunft und einer katholischen Lehrerin im schottischen Glasgow, deren Gefühle von den Loyalitätsansprüchen ihrer Herkunftsmilieus auf die Probe gestellt werden. Der Film sei "ein überzeugendes Plädoyer für gegenseitige Akzeptanz und interkulturelle Verständigung", so die Jury. Eine Lobende Erwähnung vergab die Jury außerdem für den kroatischen Wettbewerbsbeitrag "Svjedoci", der die moralischen Erschütterungen des Balkankrieges verarbeitet.

Die Preise im Forum und Panorama sind jeweils mit 2500.- Euro von der Deutschen Bischofskonferenz und der EKD dotiert. Forums-Preisträgerin Dominique Cabrera schildert in "Folle embellie" die Suche nach elementaren Formen menschlicher Verständigung unter den nach einem Bombenangriff verstreuten Insassen einer französischen Nervenheilanstalt im Ersten Weltkrieg. Der Film sei "eine umfassende Metapher" für die Frage nach den Möglichkeiten der Heilung zerstörter menschlicher Beziehungen, heißt es in der Jurybegründung. Im Panorama schließlich zeichnete die Jury den italienischen Film "Mi piace lavorare" (Mobbing) von Francesca Comencini aus. Eine Sekretärin und alleinerziehende Mutter wird darin nach der Neuorganisation ihrer Firma zum Mobbingopfer ihrer Kollegen. Die Auszeichnung der Jury würdigt das Eintreten der Regisseurin für Gerechtigkeit und menschliche Würde.

Auf evangelischer Seite wird die Ökumenische Jury durch INTERFILM, die internationale kirchliche Filmorganisation, getragen, deren Geschäftsführung das Filmkulturelle Zentrum im GEP betreut. Für die amerikanische Templeton Foundation hat INTERFILM auch die Trägerschaft des John Templeton European Film of the Year übernommen, der jetzt zum siebten Mal während der Berliner Filmfestspiele verliehen wurde. Es ist mit 10.000 CHFr der derzeit höchstdotierte kirchliche Filmpreis. Er wird von einer Jury aus den kirchlichen Preisträgern des abgelaufenen Jahres ausgewählt. Im Rahmen eines Gottesdienstes in der Matthäus-Kirche wurde der Preis dem russischen Regisseur Andrej Zvjagincev für seinen Film "The Return – Die Rückkehr" übergeben. Er handelt von der Rückkehr eines Vaters zu seiner Familie nach jahrelanger Abwesenheit. Zwischen ihm und seinen beiden Söhnen entwickelt sich auf einer Fahrt zu einer einsamen Insel ein tödlich endender Konflikt. Autorität und Rebellion prallen aufeinander. Wortkarg, schroff und formvollendet inszeniert, bringt dieses Filmdebut zahlreiche Deutungsmöglichkeiten ins Spiel – politische, psychologische, moralische, und nicht zuletzt religiöse. Unverkennbar arbeitet der Film mit christologischen Motiven, die um so wirkungsvoller sind, als sie aus Alltagssituationen entstehen. Der erkennbar bewegte Regisseur sah sich durch die kirchliche Auszeichnung in seinen Intentionen bestätigt. Spirituell ist sein Film der heiß diskutierten, in Wahrheit nur effektvollen Frömmigkeit von Mel Gibsons "Die Passion Christi" weit überlegen, so sehr, dass sich der Vergleich fast verbietet. Seit Anfang April läuft "The Return – Die Rückkehr" auch in deutschen Kinos.