Amores perros (© Altavista Films)


Die neben dem Wettbewerb spannendste Reihe des Festivals ist die Sektion „Cannes Classics“. Eine wahre Wundertüte, angefüllt mit restaurierten Klassikern der Filmgeschichte. Außerdem sind hier noch Dokumentationen und Portraits zu sehen. Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter des Festivals, kommt zu jedem Screening, stellt die Filme persönlich vor, zusätzlich gibt es eine Einführung zu ihrer Geschichte und Restaurierung. Jede Vorführung besitzt eine besondere Aura.

Wie z.B. die Präsentation von „Amores perros“, der vor 25 Jahren seine Premiere in der Nebenreihe „Semaine de la Critique“ feierte, wo er als bester Film ausgezeichnet und später für einen Oscar nominiert wurde. Alejandro González Iñárritu, damals 36, war ein unbekannter mexikanischer Regisseur. „Den Film in Cannes vorzustellen, hat unglaublich viele Türen für das mexikanische Kino geöffnet“, sagte er in Cannes. Sichtlich bewegt ergänzte sein Hauptdarsteller Gael García Bernal, der damals gerade erst 21 Jahre alt war: “Ich möchte Alejandro dafür danken, dass er mein Leben verändert hat.“ Durch „Amores perros“ wurde nicht nur García Bernal zu einem internationalen Star. Auch für den Drehbuchautor Guillermo Arriaga und den Kameramann Rodrigo Prieto öffneten sich die Türen nach Hollywood. Später kamen Alfonso Cuarón und Guillermo del Toro dazu, inzwischen haben die drei ‚Mexikanischen Musketiere‘ mehr als ein halbes Dutzend Oscars gewonnen. 

Auf einzigartige Weise beleuchtet „Amores perros“ gegensätzliche soziale Milieus in Mexiko-Stadt, die bei einem Verkehrsunfall im Wortsinn zusammenstoßen, von Hundekämpfen in Hinterhöfen bis zum glamourösen Leben eines Star Models. Für González Iñárritu ist der Film ist eine „Auseinandersetzung mit dem Wesen des Menschen, ohne eine Antwort“, wie er in Cannes anmerkte.

Ähnliches könnte man über „One Flew Over the Cuckoo’s Nest“ (Einer flog über das Kuckucksnest) sagen, der 50 Jahre nach seiner Premiere in einer restaurierten Fassung präsentiert wurde. Kirk Douglas hatte die Rechte an Ken Keseys gleichnamigem Roman schon 1962 erworben, aber es dauerte 12 Jahre, bis den Film realisiert wurde. Die Produzenten Michael Douglas und Saul Zaentz suchten vergeblich nach einem Studio, das bereit war, das Projekt zu finanzieren. „Who wants to see a film about a guy in a mental institution?” (Wer will einen Film über einen Mann in einer psychiatrischen Anstalt sehen?), war die typische Reaktion, wie Paul Zaentz, der Neffe des Produzenten, bei der Präsentation in Cannes berichtete. 

Milos Forman hatte die Tschechoslowakei schon vor dem sowjetischen Einmarsch verlassen und lebte erst seit einigen Jahren in den USA. Bevor Michael Douglas ihn kontaktierte, hatte er Monate lang depressiv im New Yorker Chelsea Hotel verbracht, ohne sein Bett zu verlassen. „One Flew Over the Cuckoo’s Nest“ gewann fünf Oscars, u.a. für den besten Film, die beste Regie, Jack Nicholson und Louise Fletcher als beste Hauptdarsteller, und ist heute eine Kinolegende.

Legendär ist auch der Action Film des chinesische Regisseurs John Woo, „Hard Boiled“, den er realisierte, bevor er 1992 nach Hollywood ging. Die Stars des Hongkong-Kinos, Chow Yun-Fat und Tony Leung, spielen Kontrahenten in einem Kriminalthriller, die am Ende zu Partnern werden. Regisseur John Woo stellte sich einen Polizeifilm à la „Dirty Harry“ im Hongkong-Stil vor. Chow Yun-Fat spielt den Polizeiinspektor ‚Tequila‘ Yuen, der gleich zu Beginn bei einer Schießerei in einem Teehaus ein Dutzend Gangster zur Strecke bringt. Eine Woche lang hat John Woo an der Choreographie dieser Sequenz gearbeitet, um die akrobatisch-anarchische Qualität des Schusswechsels zu perfektionieren. 

John Woo „hat das Action-Genre auf eine ganz neue Ebene gehoben. Seine Schießereien sind ein Ballett, seine Explosionen Poesie“, wie es ein amerikanischer Kritiker treffend beschrieben hat. Tony Leung, auch bekannt aus den Filmen von Wong Kar-Wai wie „In the Mood For Love“, spielt einen Undercover-Agenten, der eine kriminelle Gang unterwandert und am Ende die Seiten wechselt. In der grandios choreographierten Schlusssequenz, die in einem Krankenhaus spielt, opfert er sich für seinen Partner, während Chow Yun-Fat die Babys aus der Säuglingsstation rettet.

So verbindet die Reihe der „Cannes Classics“, die es ähnlich auch in Venedig gibt, das aktuelle Programm des Festivals mit filmhistorischen Klassikern, die in neuem Glanz auf der Leinwand erstrahlen. Das Kino mag eine flüchtige Kunstform sein, aber ohne Kenntnis seiner Geschichte versteht man die Gegenwart nicht. Mit dem Abstand der Jahre sieht man, wie gut oder schlecht Filme gealtert und welche im kollektiven Gedächtnis geblieben sind.

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