Die Goldene Palme für den iranischen Film „Un simple accident" (It Was a Simple Accident) von Jafar Panahi war keine wirkliche Überraschung, denn der Film zählte eindeutig zu den Favoriten des Festivals. Endlich konnte der Regisseur einen Festivalpreis auch persönlich entgegennehmen, denn er bekam erstmals eine Reiseerlaubnis. Das Urteil gegen ihn war aufgehoben worden und er durfte wieder ins Ausland reisen. Man hatte ihn auch schon mit seiner Frau und Tochter bei der Premiere auf dem Roten Teppich gesehen. So ist die Goldene Palme für Panahi auch eine politische Entscheidung, die seinen Mut und Widerstand angesichts der Verfolgung durch den iranischen Justizapparat würdigt.
Jahrelang hatte er trotz offiziellen Berufsverbots unter schwierigsten Umständen kleine Filme gemacht, die dann auf internationalen Festivals auftauchten, während der Regisseur den Iran nicht verlassen durfte. Dass er in seinem neuen Film offen die politische Repression und die Folter in Gefängnissen anspricht, seinen Film sogar persönlich in Cannes zeigen und die Auszeichnung entgegennehmen kann, mag man als ein Anzeichen dafür verstehen, dass sich im Iran unter dem neuen Präsidenten Massud Peseschkian allmählich etwas verändert. Cineastisch war Panahis Film nicht der Höhepunkt des Festivals. Dafür ist er zu dialoglastig und besitzt in der Figurenzeichnung zu wenig Tiefe. Trotzdem ist die Entscheidung als Geste der Anerkennung nachvollziehbar. 28 Jahre nach der Auszeichnung für „Der Geschmack der Kirsche“ (1997) von Abbas Kiarostami, für den Panahi als Regieassistent gearbeitet hat, ist es die zweite Goldenen Palme für einen iranischen Film.
Einer der stärksten Filme dieses Jahres war der brasilianische Beitrag „O agente secreto“ (Secret Agent). Hoch verdient wurde Kleber Mendonça Filho als bester Regisseur ausgezeichnet, sein Hauptdarsteller Wagner Moura gewann ebenso verdient den Preis als bester Darsteller. Wagner Moura, seit der Serie „Narcos“ und mehreren amerikanischen Filmen ein internationaler Star, freute sich, wieder auf portugiesisch drehen zu können. Nach „Aquarius“ (2017) und „Bacurau“ (2019) war es für Kleber Mendonça Filho die dritte Einladung in den Wettbewerb von Cannes. Ihr werden sicher noch weitere folgen.
Der Norweger Joachim Trier, der knapp die Goldene Palme verfehlte und mit „Affeksjonsverdi“ (Sentimental Value) den Großen Preis der Jury gewann, ist inzwischen als Regisseur von internationalem Format anerkannt. Vor 4 Jahren hatte er mit „Der schlimmste Mensch der Welt“ (2021) in Cannes einen starken Auftritt, damals wurde seine Hauptdarstellerin Renate Reinsve als beste Darstellerin ausgezeichnet. In Triers neuem Film spielt sie wieder eine Hauptrolle, und zwar eine Schauspielerin, die nach Jahren mit ihrem Vater (Stellan Skarsgård) zusammenkommt, der die Familie verlassen hatte.
Dass die Belgier Jean-Pierre und Luc Dardenne für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurden, war das mindeste, was man erwarten durfte. Ihr Film „Jeunes mères“ (Junge Mütter), der vorher schon den Preis der Ökumenischen Jury erhalten hatte, wäre auch einer Goldenen Palme würdig gewesen, die die Brüder schon zweimal gewonnen haben. Ihr Film war am Vorabend der Preisverleihung ein grandioser Abschluss des Festivals. Filmisch von großer Intelligenz und emotional überwältigend.
Der Jury-Prize ging gemeinsam an den spanischen Film „Sirât“ von Oliver Laxe und „Sound of Falling“ von Mascha Schilinski. Oliver Laxe hat sich in Cannes von den Nebenreihen ‚Quinzaine des réalisateurs‘, ‚Semaine de la critique‘ und ‚Un certain regard‘ in den Wettbewerb hochgearbeitet. „Sirât“, produziert von Agustín und Pedro Almodóvar, ist ein radikales, visuell überwältigendes Roadmovie, das in der marokkanischen Wüste spielt. Sergi Lopez ist mit seinem kleinen Sohn auf der Suche nach seiner Tochter, die er auf einem Rave vermutet. Die Eröffnungssequenz wurde an der imposanten Felsformation Rambla de la Barrachina in der spanischen Provinz Teruel gedreht. Dabei trifft er auf eine Gruppe spanischer Technofreaks, die mit ihren umgebauten Lastwagen unterwegs zum nächsten Event an der mauretanischen Grenze sind. Zusammen fahren sie durch die wildesten Wüstengegenden, immer auf der Suche nach Benzin und Verpflegung. Nach und nach wird die Fahrt zu einem Höllentrip, der auch den Titel „Die letzten Tage der Menschheit“ tragen könnte.
Mascha Schilinskis „Sound of Falling“ spaltete die Gemüter in Cannes, die einen waren begeistert von so viel cineastischer Ambition, die anderen konnten mit Schilinskis feministisch angehauchter Geistergeschichte rund um einen Bauernhof in der Altmark wenig anfangen. Die Jury offensichtlich umso mehr. Übrigens gibt es inzwischen auch einen deutschen Titel: „In die Sonne schauen“.
Dass die 23jährige Nadia Melitti den Preis als beste Darstellerin gewann, war eine Riesenüberraschung. Die Studentin, die Fußball spielt und boxt, wurde bei einem Casting auf der Straße entdeckt. In Hafsia Herzi Romanverfilmung „La petite dernière“ (Die kleine Tochter) spielt sie Fatima, die kleine Schwester einer Familie mit algerischen Wurzeln, die in der Banlieu von Paris lebt. Als sie ihre erotische Vorliebe für Frauen entdeckt, kann sie sich niemandem anvertrauen und gerät in Konflikt mit ihrer religiösen Überzeugung. So sympathisch es ist, Laiendarsteller auszuzeichnen, scheint es mir doch nicht fair gegenüber professionellen Schauspielern, die ganz anders in ihre Rolle eintauchen, wie z.B. Léa Drucker in Dominik Molls brillantem Polizeifilm „Dossier 317“. Oder die Iranerin Parinaz Izadyar, die in dem zweiten iranischen Film „Woman and Child“ als verwitwete Krankenschwester und Mutter eines pubertären Sohns eine enorme Wandlungsfähigkeit zeigt.
„Resurrection“ von Regisseur Bi Gan aus China, für das die Jury einen Spezialpreis vergab, spaltete ebenfalls die Gemüter. Während die Bewunderer von einem „Rätsel“, einer „filmischen Odyssee“ oder einem „Leckerbissen für Cinephile“ schwärmten, sahen andere ein fast dreistündiges Feuerwerk cineastischer Ideen ohne erkennbaren Inhalt. Man muss dankbar sein, dass der Film nur den Spezialpreis gewonnen hat. Es hätte schlimmer kommen können.
Der Wettbewerb von Cannes war in diesem Jahr nicht so spektakulär wie im vergangenen, wo Filme wie „Anora“, Emilia Pérez“, „Substance“, „The Apprentice“ und „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ weltweit Furore machten. Aber es gab neben den Preisträgern hervorragende Filme wie „Dossier 317“, „Eagles of the Republic“ und „Woman and Child“, die einen starken Eindruck hinterließen und hoffentlich ihr Publikum finden werden.