Cannes 2024 (6)

Bilanz des Festivals
Emilia Pérez (Jacques Audiard)

Favorit für die Goldene Palme 2024: "Emilia Pérez" von Jacques Audiard (© Shanna Besson)


Das Festival von Cannes geht zu Ende und allenthalben wird spekuliert, wer in diesem Jahr die Goldenen Palme gewinnen könnte. Die New York Times sieht zwei Filme vorne, die überall als Favoriten gehandelt werden. Erstens Jacques Audiards mexikanischer Crime- und Drogen-Thriller „Emilia Pérez“, der als Musical alle Genregrenzen sprengt. Was den Film so spannend macht, ist die Tatsache, dass man nie weiß, wie die Geschichte weitergeht. Bei den französischen Kritikern ist „Emilia Pérez“ der absolute Favorit ähnlich wie im vergangenen Jahr der spätere Sieger „Anatomie eines Falls“. Als zweiten potentiellen Gewinner nennt die New York Times den Body-Horror-Thriller „The Substance“ mit Demi Moore und Margaret Qualley. Der Film von Coralie Fargeat mutet den Zuschauern und seiner Hauptdarstellerin Demi Moore einiges zu auf ihrem Horror-Trip zu einer vermeintlichen Verjüngung. Selten hat man eine solche in der medialen Glamourwelt angesiedelte radikale Auseinandersetzung mit dem Thema Schönheit und Verfall, Alter und Jugend gesehen.

Offensichtlich ist das Genrekino in Cannes wieder salonfähig geworden. Mit seiner Balance zwischen Sex und Crime ist auch Sean Bakers „Anora“ ein Genrefilm im weitesten Sinne. Was alle drei Filme verbindet, ist ein Sinn für schwarzen Humor, der das Kino-Erlebnis zu einem makabren Vergnügen macht.


Sozusagen in letzter Minute sind noch zwei preisverdächtige Titel hinzugekommen. Die indisch-europäische Coproduktion „All We Imagine as Light“ begeisterte die Kritiker und katapultierte den Film von Payal Kapadia im Ranking des SCREEN-Magazins auf den ersten Platz. Die indische Regisseurin, die vor drei Jahren in Cannes mit „A Night of Knowing Nothing“ den Preis für den besten Dokumentarfilm gewonnen hat, beeindruckt in ihrem Spielfilmdebüt mit einer behutsam erzählten Geschichte von drei Frauen in Mumbai. Der Iraner Mohammad Rasoulof machte vor einigen Wochen Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass er aus dem Iran geflohen war, um einer achtjährigen Haftstrafe zu entgehen. In Hamburg konnte er seinen Film “The Seed of the Sacred Fig” (Die Saat des heiligen Feigenbaums) fertigstellen. Rasoulof, der zuvor 2020 in Berlin den Goldenen Bären (und den Preis der Ökumenischen Jury) für "There is No Evil" gewann, greift die von jungen Frauen initiierten Proteste auf, die nach dem Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini 2022 den Iran erschütterten.


Filme, die mir gut gefallen haben, und die ich für preiswürdig halte, waren Paul Schraders „Oh, Canada“, Jia Zhang-kes „High Rises the Tide“ und Ali Abbasis „The Apprentice”. Bei so viel cineastischer Qualität ist es nicht übertrieben, von einem starken Jahrgang zu sprechen. Der Festivalleiter Thierry Frémaux sollte recht behalten, anstatt demonstrativer Solidaritätsadressen spielte sich in Cannes die Politik auf der Leinwand ab.

Natürlich gab es auch Enttäuschungen. Es waren vor allem prominente Regisseure, deren Filme die Erwartungen nicht erfüllten. Allen voran Francis Ford Coppola mit seinem megaloman überladenen Alterswerk „Megalopolis“. Aber auch David Cronenberg lieferte mit „The Shrouds“ (Die Leichentücher) nur einen schwachen Abglanz einstiger Größe. Vincent Cassel, mit entsprechender Frisur als Cronenberg-Avatar gestylt, eine amputierte Brust von Diane Kruger und ausgiebige Sexszenen, das war alles, was der Film zu bieten hatte.


Bei Paolo Sorrentino war es eher der Mangel an Sex, der seine Ode an seine Heimatstadt Neapel zur Enttäuschung werden ließ. Sein Film „Parthenope“ präsentiert das überirdisch schöne Model Celeste Dalla Porta als griechische Göttin Parthenope, die mythische Gründerin von Neapel. In den 1950er Jahren reinkarniert, entsteigt sie dem Meer und begegnet in Capri dem amerikanischen Autor John Cheever (Gary Oldman) der ihr prophezeit, dass die Welt so viel Schönheit nicht erträgt.


Der Grieche Yorgos Lanthimos entwirft in „Kinds of Kindness“ (Arten von Freundlichkeit) ein Triptychon von drei Kurzgeschichten, die mit den gleichen Darstellern besetzt sind. Was sie unterscheidet, sind vor allem das wechselnde Haarstyling von Jesse Plemons und Emma Stone. Wie schon bei „Poor Things“ ist Willem Dafoe wieder derjenige, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. Trotzdem will das Ganze nicht zusammenpassen und lässt mit seinem artifiziellen Setting den Betrachter kalt.

Auffällig war in diesem Jahr die Häufung von Sexszenen. Man sah viel nackte Haut. Manchmal passend, manchmal unpassend. Auf jeden Fall besser als Gewalt. Vielleicht ist das Kino doch eine Wunschmaschine.