Cannes 2024 (5)

Melancholische Rückblicke
Oh, Canada (Paul Schrader)

Oh, Canada (Paul Schrader; © Oh Canada LLC - ARP)


In Cannes liebt man die großen Namen des internationalen Autorenkinos und lädt sie gerne in den Wettbewerb ein. Paul Schrader machte 1976 Furore als Drehbuchautor des Kultfilms „Taxi Driver“, für den Martin Scorsese die Goldene Palme gewann. Schrader ist längst selbst ein renommierter Regisseur, der in den letzten Jahren wieder viel Anerkennung für seine Filme gefunden hat. „Oh, Canada“ heißt sein neues Werk, das er an der Croisette vorstellte. Richard Gere spielt einen krebskranken Dokumentarfilmer, der Gegenstand einer filmischen Dokumentation wird. Michael Imperioli („Die Sopranos“) interviewt den legendären Filmemacher als letzte Gelegenheit vor seinem Tod.

Zum Entsetzen seiner Frau (Uma Thurman) nutzt der kranke Mann im Rollstuhl die Gelegenheit zu einer radikalen Lebensbeichte und entlarvt gnadenlos die Mythen seiner Karriere. In Rückblenden sehen wir, wie er seine schwangere Frau und seinen kleinen Sohn verlassen hat und eine Stelle als College-Dozent abbricht, bevor er sie überhaupt angetreten hat. Selbst die Geschichte seiner heroischen Flucht vor der Einberufung nach Vietnam entpuppt sich als nachträgliche Lügengeschichte. In Wirklichkeit hatte man ihn bei der Musterung als untauglich eingestuft.

In Rückblenden sind die Übergänge zwischen dem jungen Leonard Fife (Jacob Elordi) und dem alten Richard Gere fließend. Elegant übersetzt der Film den stream of consciousness der Erinnerung in produktiv irritierende Bilder. Richard Geres starke Präsenz erinnert an seine frühe Zusammenarbeit mit Paul Schrader in „American Gigolo“ (Ein Mann für gewisse Stunden) aus dem Jahr 1980. Beide Filme sind Studien in Einsamkeit, wobei in „Oh, Canada“ ein melancholischer, streckenweise aggressiver Ton überwiegt.


Eine ganz andere Art von Melancholie prägt den chinesischen Film „Caught by the Tides“ (Feng Liu Yi Dai). Der Regisseur und Co-Autor Jia Zhang-ke verbindet auf sehr persönliche Weise dokumentarische und fiktionale Elemente zu einer Bilanz der rasanten Veränderungen, die China in den vergangenen Jahrzehnten durchlebt hat. Das Vergehen der Zeit, die wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüche, denen die chinesische Gesellschaft ausgesetzt war, bestimmen seine filmische Karriere von den Anfängen bis heute. Der Film beginnt mit Aufnahmen aus der nordchinesischen Industriestadt Datong, die Jia Zhang-ke 2001 gedreht hat. Fahrräder bestimmen das Stadtbild, einfach gekleidete Arbeiterinnen mit bäuerlichen Gesichtern, die singen und rauchen. Man fühlt sich in ein anderes Jahrhundert versetzt.

Dann folgt der Film in lockerer Erzählweise der Tänzerin Qiao Qiao (Zhao Tao), die mit Bruder Bin, einem Barbesitzer, liiert ist. Bin verlässt die Stadt und verspricht ihr, sie nachzuholen, wenn er genug Geld verdient hat. Qiao Qiao reist ihm nach und trifft ihn am Yangtse, wo der gigantische Drei-Schluchten-Staudamm gebaut wird. Bin lässt sich auf Immobiliengeschäfte mit windigen Politikern ein, am Ufer werden ganze Städte zerstört, um Platz für den riesigen Stausee zu schaffen. Ein Ereignis, mit dem sich Jia Zhangke immer wieder in seinen Filmen beschäftigt hat. Frustriert trennt sich Qiao Qiao von ihrem Liebhaber und kehrt nach Datong in eine völlig veränderte Stadt zurück. Im Supermarkt wird sie von einem Roboter begrüßt, der sie mit Zitaten von Rousseau und Mark Twain beeindruckt, aber an der Gesichtserkennung scheitert.


In langen ruhigen Einstellungen dokumentiert Jia Zhangke den Preis, den die Menschen für die rasanten Veränderungen zahlen. Sie geraten in das Räderwerk einer gnadenlosen Modernisierung. Am Ende sind es die Frauen, die besser als die Männer in der Lage sind sich zu behaupten.

Jia Zhang-ke, der prominenteste Vertreter der sogenannten 6. Generation chinesischer Filmemacher, ist bekannt für seinen radikalen Realismus. Seine Filme dokumentieren das moderne China, dabei spannt er weite Bögen, um die Umbrüche der Gesellschaft deutlich zu machen. Seine Ehefrau, die Tänzerin und Schauspielerin Zhao Tao, die von der New York Times zu den „25 größten Schauspielern des 21. Jahrhunderts“ gezählt wurde, spielt seit mehr als 20 Jahren die Hauptrolle in seinen Filmen, so auch in „Caught by the Tides“.

2013 wurde Jia Zhang-ke in Cannes für „A Touch of Sin“ (Tian zhu ding) mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Eine weitere Auszeichnung wäre in diesem Jahr gut vorstellbar.