Cannes 2024 (1)

Eröffnung und erste Wettbewerbsfilme des Festivals


Wind und Regen taten der guten Stimmung am Abend der Eröffnung des Festivals von Cannes keinen Abbruch. Die von der Schauspielerin Camille Cottin klug moderierte „Ceremonie d’Ouverture“ ging glanzvoll über die Bühne, so wie man es von Cannes gewohnt ist. Eine souveräne Inszenierung, von der man in Berlin einiges lernen könnte. Neben der Präsentation der Jury war die Goldene Ehren-Palme für Meryl Streep der emotionale Höhepunkt des Abends. Die 74jährige Ausnahmeschauspielerin erinnerte an ihren letzten Cannes Besuch vor 35 Jahren. „Damals hatte ich drei Kinder und dachte, jetzt bin ich zu alt für Hollywood und meine Karriere ist zu Ende.“ Glücklicherweise kam es anders und Meryl Streep schaffte es, sich als älter werdende Frau im Filmgeschäft zu behaupten.

Nachdem man vor zwei Jahren den ukrainischen Präsidenten Selenskyj live zur Eröffnung geschaltet hatte, sollte nach dem Wunsch des Festivalleiters Thierry Frémaux in diesem Jahr die Politik auf der Leinwand anstatt auf der Bühne oder der Straße stattfinden. Neben der Ukraine ist als heikles Konfliktthema seit dem 7. Oktober 2023 der Gaza Krieg hinzugekommen. Außerdem erlebt Frankreich gerade eine heftige #MeToo-Debatte, prominent vertreten durch die Schauspielerin Judith Godrèche, die mehreren Regisseuren sexuelle Übergriffe vorwirft. Aus den Reaktionen weiterer Betroffener hat sie den Kurzfilm „Moi aussi“ gestaltet, der zur Eröffnung der Reihe „Un certain regard“ gezeigt wurde.

Der offizielle Eröffnungsfilm „Le deuxième acte“ von Quentin Dupieux (außerhalb des Wettbewerbs) entpuppte sich als eine doppelbödige Komödie, die maßgeblich von ihren Stars lebt. Léa Seydoux, Louis Garrel, Raphael Quenard und Vincent Lindon agieren als Schauspieler in einem absurden Film und fallen immer wieder aus ihren Rollen. Die Dialoge sind wunderbar bösartig (jedenfalls im französischen Original) und politisch so inkorrekt, dass das englische Branchenblatt SCREEN angesichts solcher „transphobic, homophobic and #MeToo“ Dialoge fassungslos war. Es schien fast so, als ob Quentin Dupieux, der vom Drehbuch über Regie, Kamera und Schnitt den ganzen Film im Alleingang gestaltet hat, die aktuelle #MeToo Debatte ironisch auf die Spitze treiben wollte. Außerdem macht er sich über KI-gesteuerte Dreharbeiten und einen Avatar-Regisseur lustig, der den Schauspielern misslungene Szenen von der Gage abzieht. In Frankreich ist Quentin Dupieux längst ein Kultregisseur und Star. Es wird Zeit, ihn auch international zu entdecken.


Eine großartige Entdeckung war auf jeden Fall „Diamant brut“ (Rohdiamant), das der erste Spielfilm der Graphikerin und Fotografin Agathe Riedinger. Gleich mit ihrem Debüt in den Wettbewerb von Cannes eingeladen zu werden, war für die französische Regisseurin mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte.

Die 19jährige Liane (eindrucksvoll und preisverdächtig: Malou Khebizi) lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter und ihrer kleinen Schwester in ärmlichen Verhältnissen im Hinterland von Fréjus und träumt von einer Karriere als Influencerin. In ernüchternden Bildern zeigt der Film die wenig glamouröse Kehrseite der Cote d’Azur, ein prekäres Leben zwischen enger Wohnung, betoniertem Flussbett und einer staubigen Motocross-Strecke. Dino (Idir Azougli), der in Liane verliebt ist, zeigt ihr einen verlassenen Rohbau als zukünftigen Ort ihrer gemeinsamen Träume.

Liane lebt von kleinen Diebstählen, sie klaut Parfüm, Earpods und Klamotten, die sie weiterverkauft. In einem Geschäft klaubt sie die Glitzersteine von einem Kleid und klebt sie an ihre High Heels. Ihr großer Traum ist die Teilnahme an einer Show im Reality TV namens „Miracle Island“, und tatsächlich wird sie zu einem Casting eingeladen.

Nach einer Brustvergrößerung wirkt sie wie eine Porno-Darstellerin, ist jedoch im Grunde unsicher und hatte noch nie einen Freund. Ständig fürchtet man als Zuschauer, dass ihr etwas zustößt und sie mit ihrer aufreizenden Erscheinung den falschen Männern in die Hände fällt.


Ähnlich prekären Verhältnisse begegnet man in „Bird“ von Andrea Arnold. Es ist dieses Milieu von unterdrückten Frauen und toxischen Männern, in das die englische Regisseurin immer wieder zurückkehrt. Die dunkelhäutige12jährige Bailey (Nkyia Adams) lebt mit ihrem weißen Vater und älteren Stiefbruder in einer vermüllten Wohnung irgendwo im Süden Englands. Es wird viel getrunken und geschrien. Der Film fängt damit an, dass der ganzkörpertätowierte Vater (Brian Keoghan) ihr eines Tages eröffnet, dass er seine Freundin heiraten wird, was bei Bailey auf wenig Begeisterung stößt.

Bei ihrer Mutter trifft sie ihre beiden kleineren Schwestern, ihren kleinen Bruder und den neuen Freund der Mutter, der bei jeder Gelegenheit ausrastet und gewalttätig wird.

Immerhin ist da noch die Titelfigur Bird, gespielt von Franz Rogowski, der auf der Suche nach seinen Eltern ist, deren Kontakt er vor Jahren verloren hat. Offensichtlich hat er die Zwischenzeit in Deutschland verbracht, worauf sein deutscher Akzent schließen lässt. Die Figur von Bird ist eine seltsame Mischung aus Schutzengel und Vogelmann, mit flatterndem Rock über der Hose. Dass ihm später sogar für einige Momente Flügel wachsen, unterstreicht seine Vogelnatur. Ohnehin steht er ständig auf Dächern und Mauern. Was bei „Diamant brut“ authentisch und spontan wirkt, erscheint bei „Bird“ konstruiert und symbolisch überladen. Wer weiß, vielleicht existiert dieser Birdman nur in Baileys Phantasie.

Auch der Schwede Magnus von Horn erzählt in „The Girl With the Needle” (Das Mädchen mit der Nadel) eine dramatische Frauengeschichte. Schauplatz ist Kopenhagen während des 1. Weltkriegs und in den Jahren danach. Karoline (Victoria Carmen Sonne), die als Näherin in einer Textilfabrik arbeitet, wird nach einer Affäre mit dem Direktor schwanger. Die erhoffte Heirat scheitert am Widerstand der tyrannischen Schwiegermutter. Sie trifft auf eine mysteriöse ältere Frau (Trine Dyrholm), die gegen Geld Babies an „gute Familien“ vermittelt. Das behauptet sie jedenfalls. Auch Karoline vertraut ihr das neugeborene Kind an und wird schließlich zu ihrer Assistentin. Der in Schwarz-Weiß gedrehte Film, der frei nach dem wahren Fall einer Kindermörderin erzählt ist, hat die Anmutung eines düsteren Märchens und die Spannung eines Horrorthrillers. Die beängstigende Atmosphäre wird unterstrichen durch die authentischen Drehorte, historische Fabrikbauten, die Magnus von Horn in Lødz gefunden hat, wo er an der Filmschule studierte.

In den ersten Tagen erlebte man  in Cannes einen vielversprechenden Festivalauftakt mit eindrucksvollen weiblichen Protagonistinnen.