Cannes 2023/2

Kommentare und Notizen zum Festival. Von Waltraud Verlaguet

Le retour (Internationaler Wettbewerb)

Le retour von Catherine Corsini erzählt von einer Frau mit ihren zwei Töchtern, die vor 15 Jahren Korsika verlassen hat, wo sie verheiratet war, und die zurückkehrt als Kindermädchen einer reichen Familie, die dort Ferien macht. Es ist die Geschichte einer Familie trotz und trotz allem. Im ersten Teil des Films braucht man etwas Zeit, um in den Film einzutauchen, aber das liegt daran, dass die Regisseurin zunächst einmal den Rahmen absteckt. Sie spielt mit allen Gegensätzen: Schwarze und Weiße, Korsen und andere, Reiche und Arme, die gute Schülerin und die andere, die aus „guter Familie“ und die anderen, die Redseligen und die Diskreten, Rassisten und deren Opfer, jeder in seinem fixen Rahmen gewöhnlicher Vorurteile. Aber dann beschleunigt sich alles, alles wird auf den Kopf gestellt, sogar ins Gegenteil verkehrt. Und es ist diese radikale Infragestellung von Beziehungen, wie sie zu Beginn fixiert schienen, die eine Katharsis ermöglicht; es ist die Überschreitung von Grenzen, die die Fesseln sprengt, es jedem ermöglicht, seinen Platz neu zu definieren und letztendlich die Familie wieder vereint.

Simple comme Sylvain von Monia Chokri (Un Certain Regard).

Geschichten von Paaren, die sich trennen, einander finden, Fehler machen, einander suchen … Davon gibt es in dieser Generation von Filmemachern viele. Aber Monia Chokri macht es mit einer „Tiefe voller Leichtigkeit“, voller Humor und mit Rhytmus, es ist eine Freude. Die Geschichte der turbulenten Beziehungen ist mit Ausschnitten aus den Lektionen durchsetzt, die die Heldin an der Fakultät für ältere Menschen gibt: und zwar eben über die Liebe, von der platonischen, die durch Verzicht aufrechterhalten wird, über ihre Reduzierung auf den Sexualtrieb bis hin zu einer Liebe als Akt der Entscheidung und nicht als Leidenschaft, der man sich nicht widersetzen kann.


Besonders berührend war aber die Botschaft, die uns die Regisseurin vor der Vorführung übermittelte: Dass jemand, der als Genie anerkannt wird, seinen Mitmenschen gegenüber alles tun kann, gilt allgemein als Zeichen seiner Genialität. Aber andere zu verachten ist eben immer nur ein Zeichen persönlicher Schwäche und wahres Genie würde davon profitieren, von Freundlichkeit getragen zu werden. Der Saal applaudierte wie wild.

 

Qing Chun (Chun)/Jeunesse (Le printemps) (Internationaler Wettbewerb)

Jeunesse (Le printemps) von Wang Bing lässt uns in die Welt der Arbeiter in chinesischen Fließband-Nähwerkstätten eintauchen. Sie arbeiten unendliche Stunden, sie müssen schnell und präzise sein, leben in schäbigen Schlafsälen - und trotzdem lachen, flirten, streiten sie, wie alle jungen Menschen. Die Frage, ob man abtreibt oder ob man heiratet, erscheint fast nebensächlich. Man kann es sich sowieso nicht leisten, zu heiraten. Preisverhandlungen mit dem Chef sind zwar schwierig, aber es gibt ja keine Alternative. In jeder Filmsequenz werden die Namen der Protagonisten genannt, die zwischen 20 und 25 Jahre alt sind, sowie ihre Herkunft – sie kommen alle vom Land – und die Adresse der Werkstatt in einer Stadt (Zhili in der Provinz Zheijiang), die dank der Textilindustrie in kurzer Zeit entstanden ist. Eine der Werkstätten befindet sich in der „Strasse des Glücks“ … Ich staune, wie man es bei dieser Geschwindigkeit schaffen kann, eine gerade Naht zu machen. Schade, dass dieser Film angesichts seiner Länge wohl von niemandem gesehen wird. (Mit 212 Minuten ist Jeunesse allerdings vergleichsweise kurz, verglichen mit den 551 Minuten von Tie Xi Qu - West of the Tracks von 2003, mit dem Wang Bing bekannt wurde.)

 

Rosalie von Stéphanie Di Giusto (Un Certain Regard)

Ein Kostümfilm über eine am ganzen Körper behaarte Frau, der viele universelle Fragen aufwirft. Rosalie ist rasiert und geschminkt und mit einer guten Mitgift verheiratet. Der Mann entdeckt ihren Zustand erst während der Hochzeitsnacht und wendet sich entsetzt ab. Sie versucht, ihr Handikap zur Attraktion zu machen und so der niederliegenden Dorfkneipe ihres Mannes auf die Sprünge zu helfen.

Rosalie möchte unbedingt Kinder, aber das wird wohl nicht klappen. Als sie ein Waisenmädchen des Klosters adoptieren möchte, mit dem sie eine schüchterne Beziehung aufgebaut hat, sagt die Mutter Oberin voller Güte, dass Gott alle seine Geschöpfe liebt. Doch als es so weit ist, legt sich der Hauptspender des Klosters quer, obwohl er sich von Rosalie angezogen fühlt - oder gerade deswegen.

Ein sehr starker Satz aus dem Film: Als der Journalist Rosalie befragt, wie man mit einem solchen Handicap leben kann, antwortet sie im Grunde, dass es sowieso schwierig sei, eine Frau zu sein ... Die letzte Szene ist großartig.