Cannes 2023: Gelungene Comebacks

Wim Wenders und Catherine Breillat überzeugen im Wettbewerb des Festivals

In Japan

Für Wim Wenders ist Cannes so etwas wie ein Heimspiel. Hier hat er vor fast 40 Jahren mit „Paris Texas“ die Goldene Palme gewonnen, weitere Auszeichnungen folgten. Mit Nibelungentreue hielt das Festival an ihm fest und zeigte auch seine schwächeren Filme wie zuletzt den Dokumentarfilm über Papst Franziskus. Sein Spielfilm, „Palermo Shooting“, lief 2008 im Wettbewerb und geriet zu einem veritablen Debakel. Entsprechend skeptisch waren die Erwartungen an sein neues Werk „Perfect Days“, das er in Tokyo gedreht hat. Man weiß, dass Wenders eine große Affinität zu Japan hat. Mit „Tokyo-Ga“ (1985) realisierte er eine Hommage an den großen japanischen Regisseur Yasujiro Ozu, „Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten“ war eine Dokumentation über den Modedesigner Yoji Yamamoto.

„Perfect Days“ ist inspiriert von den öffentlichen Toiletten in Tokyo, die von renommierten Architekten entworfen und in den letzten Jahren installiert wurden. Hirayama (Koji Yakusho) arbeitet als Toilettenreiniger und kümmert sich um den perfekten Zustand seiner Anlagen. „Perfect Days“ beginnt wie ein Dokumentarfilm, wir sehen Hirayama in seiner bescheidenen Wohnung wie er den Futon zusammenrollt, sich die Zähne putzt, seinen Overall anzieht und zur Arbeit fährt. Früh am Morgen fährt er durch die menschenleere Stadt und hört seine Lieblingsmusik auf altmodischen Tonkassetten. Am Nachmittag geht er ins Badehaus, isst in einem Imbiss und fährt mit dem Fahrrad durch die Stadt. Bevor er einschläft, liest er noch etwas. Zuerst William Faulkner, dann die japanische Autorin Aya Koda, Bücher, die er in einem Antiquariat günstig kauft. Manchmal geht er abends noch in eine Bar, deren Besitzerin ab und zu für ihre Gäste singt.

Man muss sich den Toilettenreiniger als einen glücklichen Menschen vorstellen, der seine bescheidene Arbeit schweigsam und gründlich verrichtet. Zugleich ahnt man, dass dieser Mann, der in der ersten Stunde des Films kaum etwas sagt, einmal ein anderes, vermutlich intellektuelleres Leben gelebt hat. Das wird spätestens klar, als seine Schwester mit einem teuren Auto bei ihm auftaucht, um ihre Tochter zurückzuholen, die sich zu ihrem Onkel geflüchtet hat. Was Hirayama früher gemacht hat, darüber können wir nur rätseln, werden es aber nie erfahren.

„Perfect Days“ lebt vom Charme seines Hauptdarstellers Koji Yakusho, der den ganzen Film trägt und dessen Mienenspiel allein die Zuschauer in Bann schlägt. Womit Koji Yakusho ein starker Kandidat für den Darstellerpreis sein dürfte. Auf eine zurückhaltende, fast meditative Weise feiert Wenders die kleinen Dinge des Lebens, die Rituale des Alltags als Momente des Glücks. Die Songs, die Hirayama im Auto hört, sind die Lieder aus Wenders‘ Jugend, Eric Burdon, Lou Reed, dessen „Perfect Day“ die Inspiration für den Titel liefert, die Kinks, Otis Reading. Wim Wenders gelingt ein perfektes Comeback mit diesem Film, der zu Recht in Cannes gefeiert wurde.

In Frankreich

Mit 17 Jahren schrieb Catherine Breillat ihren ersten Roman, der als nicht jugendfrei eingestuft wurde. 1976 gab sie ihr Regiedebüt. Breillats Romane und Filme haben wegen ihrer freizügigen Darstellung von Sexualität immer wieder Skandale provoziert. Kein Wunder, dass die Regisseurin Mühe hatte, ihre Projekte zu finanzieren und zwischenzeitlich vor allem als Drehbuchautorin in Erscheinung trat. 2004 erlitt Breillat einen Schlaganfall, unter dessen Folgen sie immer noch leidet.

Nach zehnjähriger Pause konnte die 74jährige dank der Unterstützung des renommierten Produzenten Said Ben Said wieder einen Film realisieren und wurde zum zweiten Mal in den Wettbewerb von Cannes eingeladen. „L’Été dernier“ (Der letzte Sommer) ist ein Remake des dänischen Films „Königin“ (2019) mit Tryne Dirholm in der Hauptrolle. Breillat bleibt nahe an der Vorlage, aber verlegt die Geschichte nach Frankreich. Die erfolgreiche Anwältin Anne (Léa Drucker) führt mit ihrem Partner Pierre (Olivier Rabourdin) und ihren kleinen koreanischen Adoptivtöchtern ein angenehmes Leben in einem großbürgerlichen Haus außerhalb der Stadt. Als eines Tages Pierres 16jähriger Sohn Théo (Samuel Kircher) auftaucht, der vorher bei seiner Mutter gelebt hat, gerät das familiäre Zusammenleben aus dem Gleichgewicht. Zuerst nervt der Jugendliche die Familie mit seiner Penetranz und Gleichgültigkeit. Théo täuscht sogar einen Einbruch vor, um seine Eltern zu bestehlen. Doch dann entwickelt sich eine erotische Spannung zwischen Anne und ihrem Stiefsohn, die schließlich in einer leidenschaftlichen Affäre mündet. Als Anne versucht, die destruktive Dynamik der Beziehung zu beenden, denunziert Théo sie bei seinem Vater. Anne streitet alle Vorwürfe ab, doch Théo droht damit, sie wegen Sex mit Minderjährigen anzuzeigen.

„L’Été dernier“ überragt in seiner Präzision die dänische Vorlage und verblüfft mit einem radikalen Finale. „Ein Film so brillant und scharf wie ein Diamant“, schreibt Jacques Mandelbaum in „Le Monde“. Catherine Breillat seziert gnadenlos den elementar menschlichen Konflikt zwischen moralischen Geboten und den dunklen Seiten des sexuellen Begehrens. Die 51jährige Léa Drucker ist großartig im Zwiespalt zwischen einer seriösen Frau und ihrem erotischen Verlangen. „Es geht um einen Pseudo-Inzest, der sich fast zufällig ergibt. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn der junge Mann sich nicht verliebte,“ sagt die Regisseurin. Nach 10 Jahren Abwesenheit feiert auch Catherine Breillat in Cannes ein glänzendes Comeback.