Cannes 2023: Ambivalente Frauenfiguren

Peter Paul Huth über "Anatomie d'une chute" und "Club Zero"


Justine Triets „Anatomie d’une chute“ (Die Anatomie eines Falls) war der Film, der die Kritiker absolut begeisterte, vor allem die französischen, die ihn als Favoriten für die Goldene Palme feierten. Die erfolgreiche Schriftstellerin Sandra (Sandra Hüller) lebt mit ihrem Mann Samuel und dem Sohn Daniel in einem abgelegenen Haus in den französischen Alpen. Als der Sohn, der seit einem Unfall nur eingeschränkt sehen kann, von einem Spaziergang mit dem Hund zurückkommt, findet er seinen Vater tot im Schnee. Offensichtlich ist er aus großer Höhe hinuntergestürzt. Im Laufe der polizeilichen Ermittlungen gerät Sandra in Verdacht, ihren Mann vom Balkon gestoßen zu haben. Ein befreundeter Anwalt (Swann Arlaud) übernimmt ihre Verteidigung.

Ab diesem Punkt wird der Film zu einem Gerichtsdrama, das eine große Spannung entwickelt. Schritt für Schritt wird die komplexe Beziehungsgeschichte des Paares offengelegt. „Ich wollte darüber sprechen, was es bedeutet, mit jemandem zusammenzuleben und eine gleichberechtigte Beziehung zu führen, etwas, das fast unmöglich zu erreichen ist,“ sagt die Regisseurin Justine Triet. Im Laufe des Gerichtsverfahrens kommen die Spannungen zwischen den Ehepartnern ans Licht. Sandra - Sandra Hüller großartig nuanciert - kommt aus Deutschland und kommuniziert mit ihrem Mann auf Englisch. Vorher haben die beiden zusammen in England gelebt, wo Samuel an der Universität unterrichtete. Eigentlich möchte er schreiben, doch er sieht sich von seiner Frau überflügelt und literarisch ausgebeutet. Sie hatte eine Affäre mit einer anderen Frau, was ihr Mann ihr immer wieder vorhält. In ihren Auseinandersetzungen, die in einem Audio-Mitschnitt dokumentiert werden, geht es darum, was jeder für den anderen aufgegeben hat.

Nach und nach ergibt sich das Mosaik einer Beziehung, die kurz vor dem Scheitern stand. Wollte Sandra ihren Mann loswerden oder war es ein Suizid als letzter Ausweg persönlicher Verzweiflung? Wir wissen es nicht und werden es bis zuletzt nicht mit Sicherheit erfahren. Neben Sandra Hüller, die sich Favoritin für den Preis als beste Darstellerin profiliert, beeindruckt Swann Arlaud, einer der interessantesten Akteure des französischen Kinos, durch seine beiläufige Präsenz.


Auch bei Jessica Hausner steht eine Frau im Mittelpunkt des Films. „Club Zero“ ist der zweite englischsprachige Film der Österreicherin und ihre zweite Einladung in den Wettbewerb von Cannes. Schauplatz ist eine teure englische Privatschule, die eine neue Lehrerin, Miss Nowak (Mia Wasikowska), anstellt. Mit ihrer asketisch unkonventionellen Art beeindruckt sie die Eltern und gewinnt das Vertrauen der Schüler. „Aufmerksames Essen“ heißt der Kurs, den sie unterrichtet. Alle sind begeistert und sogar die Direktorin (Sidse Babett Knudsen) beginnt darauf zu achten, was und wie viel sie isst.

Miss Nowak lebt allein und hat ihren eigenen Gesundheitstee entwickelt. Sie hat etwas Geheimnisvolles an sich und zieht die Schüler ihres Kurses immer mehr in ihren Bann. Diese fangen an, auch zuhause weniger zu essen und behaupten, keinen Hunger zu haben, was ihre Eltern zu Wutausbrüchen provoziert. Es dauert nicht lange und sie wird als Lehrerin entlassen. Doch dann kommt der Moment, in dem Miss Nowak ihren Schülern anvertraut, dass bewusstes Essen nur der erste Schritt zum ultimativen Ziel ist – ganz ohne Essen auszukommen. Angeblich können sie auf diese Weise ihren Körper reinigen, sie belasten weniger die Umwelt und werden länger leben. Ziele, die bei modernen, ernährungsbewussten Menschen unmittelbar Anklang finden.

Es ist faszinierend zu beobachten, wie Jessica Hausner diesen Prozess der Manipulation in Szene setzt. Wie sich die idealistischen, moralisch engagierten Schüler allmählich in einem sektenartigen Netzwerk wiederfinden, davon überzeugt, ihrem Körper etwas Gutes zu tun. „Club Zero“ ist ein Film von beängstigender Aktualität, der durch die radikale Form besticht, mit der sich Jessica Hausner dem Thema Ernährung nähert. Wenn man sich einmal an die antinaturalistische Erzählweise gewöhnt hat, entwickelt der Film einen beunruhigenden Sog.