Der Amerikaner Ari Aster war bisher vor allem als Spezialist für Horrorfilme bekannt. Mit dem Psychodrama „Beau Is Afraid“ (2023) schlug er zuletzt neue Wege ein. Wie dort spielt Joaquin Phoenix auch in seinem neuen Film „Eddington“ die Hauptrolle. Die Reaktionen in Cannes fielen unterschiedlich aus. „Eddington“ ist eine Kleinstadt irgendwo in New Mexico. Wir sind im Jahr 2020 mitten in der Corona Pandemie. Joaquin Phoenix als Sheriff Joe Cross leidet unter Asthma und mag keine Gesichtsmasken, weil er damit keine Luft bekommt. Bald legt er sich mit dem Bürgermeister Ted Garcia (Pedro Pascal) an, der einen Technologiepark anlegen will und dem Ort eine strahlende Zukunft verspricht. Als der Sheriff sich entschließt, bei der bevorstehenden Wahl als Bürgermeister zu kandidieren, kommt es zum Showdown zwischen den beiden Männern.
Liebevoll kümmert sich der Sheriff um seine Frau Louise (Emma Stone), eine neurotische Künstlerin. Als sie ihn für einen esoterischen New Age Guru (Austin Butler) verlässt, verliert er sein inneres Gleichgewicht und dreht durch. Schließlich entlädt sich seine Frustration in einem gewalttätigen Finale.
Ari Aster erzählt diesen Neo-Western als eine politische Satire mit Seitenhieben auf die Lockdown-Hysterie, Political Correctness und die Black Lives Matter-Bewegung. Während er die persönlichen Rivalitäten der beiden Kontrahenten gnadenlos auf die Spitze treibt, wird der kleine Ort zu einem Mikrokosmos amerikanischer Paranoia.
Um extreme Gefühlszustände geht es auch in Lynne Ramsays „Die, My Love“ (Stirb doch, Liebling), der auf dem gleichnamigen Roman der argentinischen Autorin Ariana Harwicz basiert, der vor sechs Jahren auch auf Deutsch erschienen ist. Die Verfilmung ist mit Jennifer Lawrence und Robert Pattinson in den Hauptrollen prominent besetzt. Nachdem die beiden Stars ausführlich Autogramme gegeben und für Selfies posiert haben, wurden sie auf dem Roten Teppich als perfektes Hollywood-Paar gefeiert. Im Film von Lynne Ramsay sind die beiden allerdings alles andere als ein Traumpaar. Grace (Lawrence) und Jackson (Pattinson) ziehen von New York nach Montana in ein heruntergekommenes Haus, das einem verstorbenen Onkel gehörte. Sie ist Schriftstellerin, er macht unterschiedliche Jobs, bei denen er viel unterwegs ist. Nach wildem Sex auf dem Küchenboden wird Grace schwanger und muss sich um ihren kleinen Sohn kümmern. Eigentlich wollte sie einen Roman schreiben, aber dazu kommt sie nicht. Vielmehr entwickelt sie Symptome einer postnatalen Depression und gerät in eine geradezu psychotische Spirale. Mal wirft sie im Badezimmer alles auf den Boden und veranstaltet ein totales Chaos. Mal schlägt sie sich die Stirn am Spiegel blutig oder wirft sich durch eine Glastür.
Ihr Hang zur Selbstverstümmelung nimmt immer bedrohlichere Formen an. Dazu kommt eine zunehmende Lustlosigkeit auf Seiten ihres Mannes Jackson, eine Form „genitaler Abstumpfung“, wie Wilhelm Reich sagen würde. Nachdem sie eine Zeit in einer psychiatrischen Klinik verbracht hat, scheint es ihr besser zu gehen. Sie backt einen Kuchen und will sich mehr um das Haus kümmern. Doch die Besserung ist nur vorübergehend. Grace beginnt eine Affäre mit einem verheirateten schwarzen Nachbarn, sie entwickelt beunruhigende Phantasien und stellt sich vor, das Haus niederzubrennen oder nackt durch einen brennenden Wald zu laufen.
Der Film bietet keine eindeutigen Erklärungen für ihr extremes Verhalten. Wie Jennifer Lawrence in ihrer Rolle bis zum Äußersten geht, das ist mutig und schockierend. Kein Wunder, dass ihr gute Chancen auf den Preis als beste Darstellerin eingeräumt werden. Wie auch „Die, My Love“ ein starkes Echo in Cannes fand. Die Schottin Lynne Ramsay ist bekannt für die radikale, kompromisslose Art, mit der sie ihre Geschichten erzählt. Zuletzt war sie mit „We Need to Talk About Kevin”(2001) und “You Were Never Really Here”(2017) im Wettbewerb von Cannes vertreten. „Die, My Love“ ist seit 1999 erst ihr fünfter Spielfilm, viele Projekte, an denen sie beteiligt war, konnten nicht realisiert werden. Als ich sie vor Jahren, als die mangelnde weibliche Repräsentanz ein viel diskutiertes Thema war, in einem Interview fragte, wie sie sich als Regisseurin im Wettbewerb fühle, meinte sie lakonisch, dass sie nicht als Frau nach Cannes eingeladen werden wolle, sondern wegen der Qualität ihres Films. Die steht bei „Die, My Love“ außer Zweifel.