Glückliches Ende und positive Bilanz von Visions du Réel Nyon 2012

Bericht von INTERFILM-Präsident Hans Hodel

Während der von der internationalen Jury mit dem Hauptpreis ausgezeichnete Film De Regels van Matthijs/Matthew’s Law von Marc Schmidt (Niederlande 2012) von der interreligiösen Jury eine Lobende Erwähnung zugesprochen erhielt, vergab die internationale Jury ihrerseits eine Lobende Erwähnung an den von der interreligiösen Jury mit ihrem von der Katholischen Kirche Schweiz gemeinsam mit der Konferenz protestantischer Kirchen in der französischen Schweiz (CER) und den Reformierten Medien Zürich mit Fr. 5000 dotierten Preis an den Film 900 Dagen/900 Tage von Jessica Gorter (Niederlande/Russland 2011). Dabei war die Entscheidung angesichts der ästhetisch unterschiedlichen Filme und ihrer thematischen Vielfalt keineswegs einfach.

Die Preise der interreligiösen Jury

900 Tage thematisiert in vielschichtiger Weise die Belagerung von Leningrad im Zweiten Weltkrieg, während der alle Versorgungswege der Stadt blockiert waren und über eine Million Menschen an Hunger und eisiger Kälte verhungerten. Der Filmemacherin gelingt es mittels einer differenzierten Komposition der Bild- und Tonebene kunstvoll, präzise und berührend den Gegensatz aufzuzeigen zwischen der offiziellen, propogandistisch instrumentalisierenden, Geschichtsschreibung und den ungeschönten, persönlichen Erinnerungen und Zeugnissen einfacher Leute, die als kritisch denkende Überlebende die erhaltenen Orden des Staates verschämt aus irgend einer Ecke kramen, während andere sie stolz und ohne Skrupel auf ihrer Brust zur Schau tragen. "Individuelle Schicksale stellen die offizielle Sicht auf die Vergangenheit in Frage und zeigen die Manipulation der Menschen und ihrer Erinnerungen auf", schreibt die Jury in ihrer Begründung.

Still aus "900 Dagen" ("900 Days")

De Regels van Matthijs ist das eindrückliche Porträt eines extravertierten Autisten, der verzweifelt bemüht ist, Ordnung in sein chaotisches Leben zu bringen, und dazu gehören auch klar vereinbarte (und respektierte) Regeln mit dem seit der Kindheit befreundeten Filmemacher. Auf einfühlsame Weise dokumentiert  dieser den betroffen machenden Alltag von Matthijs in der Mietwohnung, aber auch die Momente der Konfrontation mit Vertretern der Sozialdienste, Polizei und Justiz und deren Anforderungen. "Die Bilder erzählen taktvoll und authentisch von der Hilflosigkeit des Filmemachers und der Unfähigkeit des Umfelds von Matthijs, dessen Schicksal zu ändern", schreibt die Jury.

Erinnern heisst Leben

Auffällig war unter anderem die in den verschiedenen Sektionen programmierten Filme, die sich mit historischen Aufarbeitungen und subjektiven Erinnerungen beschäftigten. Dabei fiel auf, wie unterschiedlich sich die junge Generation für die Geschichte interessiert und bereit ist, aus ihr zu lernen. Im Film 900 Tage etwa wirkt das Desinteresse des Sohnes überlebender Eltern an deren lebensbedrohlichen Ereignissen während der Belagerung Leningrads erschreckend grotesk. Auch die im Film Aprés le silence – ce qui n’est pas dit n’existe pas? von Vanina Vignal (Rumänien/Frankreich, 2012) dokumentierte Ignoranz gegenüber der Ceausescu-Diktatur stimmt höchst nachdenklich. Ein berührender Film ist in diesem Kontext aber Comme des Lions de Pierre à l’Entrée de la Nuit von Olivier Zuchuat (Schweiz/Frankreich/Griechenland 2012), der in einer adäquaten poetischen Bildsprache und aufgrund ausgegrabener Texte und Gedichte (konfrontiert mit den aus Lautsprechern tönenden Umerziehungsappellen) an die Internierung des Kommunismus verdächtigter 80‘000 Griechen auf der Insel Makronissos in der Zeit von 1948-1951 erinnert – "ein (gelungener) cineastischer Essay, der dafür sorgt, dass eine in Vergessenheit geratene Erinnerung wieder einen Platz in der Realität (eines Ortes) und in der Vorstellung (des Publikums) erhält", schreibt Carlo Chatrian treffend im Festivalkatalog. Aber wie eigentlich  kann die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart überbrückt und überwunden werden? Und wie können die Erinnerungen letzter überlebender Zeugen vergegenwärtigt werden?

Helena Hazanov und Claudio Recupero spüren dieser Frage mit ihrem anrührenden Film Laci Bacsi (Schweiz 2012/Sektion Helvétiques) nach. Sie zeigen, was Geschichtsunterreicht auch leisten kann und begleiten eine interessierte Genfer Schülergruppe, die ein Jahr lang die Gelegenheit wahr nimmt, den 1929 in Ungarn geborenen und sowohl den Holocaust als auch den Stalinismus überlebenden, später in Genf ansässig gewordenen, Juden Lazslo Somogyi Singer auf dem Weg zurück in die Vergangenheit nach Budapest und ins ehemalige Arbeitslager über seine Erinnerungen zu befragen.  Im Film Chronique d’une Mort Oubliée weckt Pierre Morath (Schweiz 2012/Sektion Helvétiques) die Erinnerung an den einsam gestorbenen Alkoholiker Michel Christen, der zweieinhalb Jahre lang in seiner Sozialwohnung im Genfer Stadtvierteil Acacias, das als volkstümlich und multikulturell gilt, ganz langsam verweste, ohne dass es die Nachbarn, die Hausverwaltung, die "Freunde" im Bistro oder die offensichtlich rein administrativ funktionierenden Sozialdienste bemerkten, geschweige denn seine Ex-Frau oder die Tochter, die aus sowohl verständlichen wie unverständlichen Gründen an einen Punkt gelangt war, wo sie dem Vater nicht mehr begegnen wollte. Der engagierte Film, der den Zuschauer betroffen macht und an seine Sensibilität für nachbarschaftliche Verantwortung rührt, problematisiert die Verkümmerung sozialer Bindungen und stellt die menschliche Seite in der Administration der Sozialdienste zur Diskussion. Er weckt aber auch die Frage nach möglichen Grenzen persönlicher Freiheitsräume und individueller Lebensgestaltung.

Starke Präsenz des Schweizer Films

Insgesamt verzeichnete diese Festivalausgabe mit 27 in den verschiedenen Sektionen programmierten Filmen eine sowohl anzahlmässig wie qualitativ bemerkenswert starke Präsenz des Schweizer Films.  Für das lokale Publikum wurde als Weltpremiere und quasi Appetitanreger am Vorabend der Festivaleröffnung im "Théâtre de Marens" eine Serie aus der sechsteiligen Dokumentation D’une jungle à l’autre von Raymond Vouillamoz (Schweiz 2012) gezeigt, der zur Zeit aktuell im Westschweizer Fernsehen (TSR) programmiert ist. Der Eröffnungsabend selbst, der im Beisein des neuen Kulturministers, Bundesrat Alain Berset, stattfand, bot dem früher als Beatocello bekannt gewordenen Kabarettisten und späteren Kinderarzt Beat Richner anlässlich der Premiere des Films L’ombrello die Beatocello von Georges Gachot (Schweiz 2012) einen willkommenen Werbeauftritt für die Unterstützung seiner vor zwanzig Jahren in Kambodscha gegründeten Kinderkliniken. Im Wettbewerb für mittellange Filme hatte der Film Work Hard Play Hard des Berners Marcel Wyss seine Premiere (nicht zur verwechseln mit dem am DokFestival Leipzig 2011 ausgezeichneten Film von Carmen Losmann mit fast identischem Titel, der in Nyon als Beitrag des DOKFestivals  Leipzig auch gezeigt wurde). Der von Marcel Wyss und David Fonjallaz produzierte Film hat die Generation der Kokainkonsumenten im Visier und setzt sich kritisch mit deren Lebensphilosophie auseinander. In der Sektion "Helvétiques" waren neben bereits erwähnten Filmen auch Das bessere Leben ist anderswo von Rolando Colla, Huerfano Valley von Elisa Larvego und Entre Il et Ailes (Between two Spirits) von Laurence Périgaud zu sehen, einem sehr sensiblen und gelungenen Beitrag zur Transgender-Thematik. Mit Forbidden Voices von Barbara Miller und dem kontrovers diskutierten Film Virgin Tales von Mirjam von Arx über die von merkwürdigen Ritualen geprägten heilen Welt evangelikaler Christen in den USA und deren Sexualmoral und Lebensstil wird sich das Kinopublikum in der deutschen Schweiz in den nächsten Wochen schliesslich selber auseinandersetzen können.