Viel Emotionen auf der Leinwand und im Umfeld

Das 37. Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken – Bericht von Gerhard Alt
Die Ökumenische Jury mit dem Preisträger AKIZ

Die Ökumenische Jury mit dem Preisträger AKIZ (Mitte)

 

Das Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken gilt als wichtigster Nachwuchswettbewerb für den deutschsprachigen Film. Bei seiner 37. Auflage im Januar ist es diesem Ruf aufs Neue gerecht geworden. Im Langfilmwettbewerb konkurrierten 16 Produktionen - zwölf aus Deutschland und je eine aus der Schweiz, Österreich, Luxemburg, USA - darunter eine Vielzahl von Uraufführungen und deutschen Erstaufführungen, mutige Experimente ebenso wie in traditioneller Filmsprache gedrehte Filme. Innenansichten, insbesondere Identitätsfindung von Frauen, bildeten einen Schwerpunkt, während aktuelle gesellschaftspolitische Fragen seltener behandelt wurden. Den mit 2000 Euro dotierten Preis der Ökumenischen Jury (Gerhard Alt, Deutschland; Melanie Pollmeier, Schweiz; Wolf-Dieter Scheid, Deutschland; Sarah Julia Stroß, Österreich) gewann der deutsche Beitrag "Der Nachtmahr" von AKIZ, der auch von der Jugendjury ausgezeichnet wurde. Der Max-Ophüls-Preis 2016 ging an die österreichische Produktion "Einer von uns" des deutschen Regisseurs Stefan Richter. Darüber hinaus wurden weitere Preise für mittellange Filme, Dokumentarfilme und Kurzfilme vergeben. Während der Preisverleihung erntete die ausscheidende Festivalleiterin Gabriella Bandel viel Anerkennung für ihre Arbeit. Im Umfeld wurde jedoch auch deutlich, dass sie das Festival nicht ganz freiwillig verlässt. Der Präsident der Ökumenischen Jury, Gerhard Alt, ist Autor dieses Artikels.

 

Der Preis der Ökumenischen Jury für „Der Nachtmahr“

Aus einem Feld von 16 Wettbewerbsspielfilmen den Preisträger zu ermitteln, fiel nicht leicht. Am Ende eines längeren Entscheidungsprozesses lagen „Der Nachtmahr“ und „Einer von uns“ fast gleich auf. Die Ökumenische Jury fällte ihr Urteil mit der folgenden Begründung: „'Der Nachtmahr' handelt vom Umgang mit Ängsten. Der Zuschauer nimmt Teil an Tinas Ich-Werdung: Sie begegnet ihren eigenen Schattenseiten in Gestalt eines seltsamen Wesens und lernt, es zu akzeptieren. Tinas Innenwelt wird im Nachtmahr sichtbar. Gleichzeitig geht es um die Akzeptanz von menschlichen Eigenarten – und den gesellschaftlichen Umgang mit Normabweichungen. AKIZ findet dafür einen außergewöhnlichen künstlerischen Ausdruck, herausfordernd, irritierend – und überzeugend.“

Der Film zeigt, was sonst unsichtbar bleibt. AKIZ konstruiert ein Wesen, das verwandt ist mit  E. T., dem Elefantenmenschen, menschlichen Föten und den Figuren bei Johann Heinrich Füssli und Hieronymus Bosch. Zunächst hört und spürt, allmählich sieht es die junge Frau Tina (Carolyn Genzkow), um deren Alltag die Handlung aufgebaut ist. Dann nehmen es auch ihre Eltern und Freundinnen wahr.  

Ähnlich wie der Bildhauer und Filmemacher AKIZ haben die Menschen des Mittelalters dem Bösen in der Welt und ihren dunklen Gedanken Gestalt und damit einen Platz in der Welt gegeben, z. B. in den Wasserspeiern am Straßburger Münster. In „Der Nachtmahr“ wird in einer künstlerisch avancierten Form, die jedoch den Ansprüchen an eine schlüssige Erzählung genügt, die Innenwelt in die Außenwelt transferiert. Dies ermöglicht Reflexion. AKIZ  selbst sprach bei der Preisverleihung von einem „philosophischen Film“.

 

Angesiedelt um den 18. Geburtstag Tinas kann der Film als Coming-of-age-Story“ betrachtet werden. Dennoch handelt es sich um eine allgemein menschliche Erfahrung unabhängig vom Lebensalter. Was hier ein wenig bizarr (doch nie als platter Monsterfilm) in Szene gesetzt wird, geschieht auf ähnliche Weise bereits bei der „Übersetzung“ von Gefühlen in Sprache im Gespräch miteinander oder bei schriftlichen Aufzeichnungen, besonders natürlich in der Bildenden Kunst und der Musik. Im Vergleich zu den sonst im Wettbewerb häufig vertretenen Geschichten um die je eigene Innerlichkeit, zeichnet sich „Der Nachtmahr“ durch eine nicht unerhebliche gesellschaftliche Relevanz aus, welche die Jugendjury in der Begründung für Ihre Preisverleihung an denselben Film auf den Punkt brachte: „...und es wird deutlich, dass von der Kreatur keine Gefahr ausgeht, sondern die ablehnenden Reaktionen ihres Umfeldes die eigentlichen Bedrohungen darstellen.“ Somit wird auch die oft allzu rasche Pathologisierung von ungewöhnlichen Eigenarten kritisiert.

     

Max-Ophüls-Preis 2016 für „Einer von uns“

Den mit 36.000 Euro dotierten Max-Ophüls-Preis vergab die Jury mit Lothar Hellinger, Simon Jaquemet, Lisa Martinek, Désirée Nosbusch, Gustav Peter Wöhler an die österreichische Produktion „Einer von uns“ des deutschen Regisseurs Stefan Richter. Dargestellt wird ein realer Fall, der vor wenigen Jahren in Österreich hohe Wellen schlug: Während eines nächtlichen Einsatzes wegen eines Einbruchs in einem Supermarkt erschießt ein Polizist den 14-jährigen Einbrecher. Der Film nimmt die Zuschauer ernst, überlässt es ihnen, selber nachzudenken und sich (vielleicht) ihr eigenes Urteil zu bilden. Er bleibt – abgesehen von einigen symbolischen Elementen (wie den beim Einbruch lediglich angebissenen statt aufgegessenen Apfel) - realistisch, bildet das faktische Geschehen in nüchternen, klaren Bildern ab. Die übervollen Regale im Supermarkt sind geradezu grafisch fotografiert. Die Warenästhetik kaschiert die Unverfügbarkeit der Sachen selbst; die Glücksversprechen bleiben uneingelöst. Die Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung und Orientierungslosigkeit wird sinnenfällig in den Szenen mit den gelangweilten Jugendlichen in dem kargen Umfeld des Supermarktes und dem abweisenden, ja reaktionären Verhalten der Erwachsenen. Diese jungen Leute haben durchaus Ansprüche ans Leben. Die Erwachsenen begegnen ihnen jedoch mit Misstrauen statt Wohlwollen. Das Ganze steuert auf das böse Ende zu. „Einer von uns“ ist dabei ein raffiniert gewählter Titel: Er bezieht sich sowohl auf das Opfer als auch auf den Täter.

 

Weitere Preisträger im Spielfilmwettbewerb

Über den mit 5500 Euro und einer Verleihförderung von 5500 Euro dotierten Filmpreis der saarländischen Ministerpräsidentin entschied ebenfalls die Hauptjury. Die Wahl fiel auf „Fado“ von Jonas Rothlaender. Der Film lotet die Befindlichkeiten eines Paares zwischen Zuneigung und Unverständnis im Wechsel von vorgestellter und tatsächlicher Wirklichkeit aus. Die Anspielungen auf die melancholische Welt des Fado und den morbiden Charme Lissabons als Schauplatz des Geschehens bleiben indessen mehr an der Oberfläche, als dass sie die Geschichte beförderten oder das Thema betonten.

 

Der Kollektivfilm „Heimatland“ der Schweizer Regisseure Michael Krummenacher, Jan Gassmann, Lisa Blatter, Gregor Frei, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Mike Scheiwiller erhielt den Preis für den gesellschaftlich relevanten Film, dotiert mit 5000 Euro, gestiftet von der Bundeszentrale für politische Bildung und Deutschlandradio Kultur, gleichfalls von der Hauptjury vergeben. Der Film ist eine wohl komponierte Allegorie. Er zeigt am Beispiel eines bedrohlichen Naturereignisses und mit einer starken Pointe die aktuelle politische und geistige Situation eines Landes, dessen Selbstverständnis sich in einem breiten Spektrum verschiedenster sozialer Gegebenheiten und divergierender Facetten von Weltanschauungen zu verlieren droht bzw. neu finden muss.

Der mit 3000 Euro dotierte, von der Saarland Sporttoto GmbH gestiftete Publikumspreis ging an „Schrotten“ von Max Zähle – eine in Saarbrücken uraufgeführte erfrischende Komödie, spannend inszeniert wie ein Western mit viel Sympathie für die exotisch anmutende Welt der umherfahrenden Schrotthändler. Den vom Saarländischen Rundfunk und dem ZDF vergebenen Fritz-Raff-Drehbuchpreis (Priesgeld 13.000 Euro) erkannte die Drehbuchjury (Daniel Blum, Sabine Holtgreve und Oliver Hottong) der Komödie „Ferien“ von Bernadette Knoller (Buch zusammen mit Paula Cvjetkovic) zu. Der Film schildert die Leichtigkeit des Nordsee-Insel-Seins, gepaart mit einigen Unwägbarkeiten des Schicksals sowie Unzulänglichkeiten und Schrulligkeiten der Akteure.

 

Schauspielerpreise

Die Max-Ophüls-Preis-Jury vergab außerdem die mit jeweils 3000 Euro dotierten Preise für die beste Nachwuchsdarstellerin und den besten Nachwuchsdarsteller. Sie spielen beide  in Filmen, die ansonsten in dem Wettbewerb leer ausgingen. Odine Johne erhielt den Preis für ihre Hauptrolle im Film „Agnes“ von Johannes Schmid, einer Literaturverfilmung nach dem Roman von Peter Stamm. Der Film erzählt in melancholischen, stimmigen Bildern die Geschichte einer jungen Frau, deren Persönlichkeit sich quasi dadurch konstituiert, dass ein Schriftsteller ihre Geschichte aufschreibt – mit dem traurigen Befund: „Das Glück schreibt keine guten Geschichten“. Odine Johne spielt die Agnes als geheimnis- und sehnsuchtsvolle, zarte, zerbrechliche und nach Selbstbestimmung strebende Frau. Schon allein, wie sie die Wörter und Sätze betont, verleiht sie ihnen ungewöhnlichen Sinn und Bedeutung.  

Ben Münchow gewann den Preis als bester Nachwuchsschauspieler. Er verkörpert in „Rockabilly Requiem“ von Till Müller-Eidenborn den jugendlichen Rebellen, der den Repressionen seines autoritären Vaters nicht entkommt. In der Erfahrung von offensichtlicher Ausweglosigkeit eröffnet allein die Musik den handelnden Heranwachsenden Perspektiven, wobei weder Weitermachen noch Abhauen attraktive Alternativen zu sein scheinen. Der Film spaltet das Publikum in Begeisterte und Ablehnende. Seine Bilder sind schrill, bunt, seine Musik schnell und laut, seine Figuren holzschnittartig, seine Botschaften bedeutungsschwer und wie (und am Ende sogar buchstäblich) in Stein gemeißelt.

 

Perlen auch unter den nicht ausgezeichneten Filmen

Die Crux einer Wettbewerbsjury ist: Mit jeder Entscheidung für einen Film entscheidet sie zugleich gegen mehrere andere Filme. Das ist leider so. So waren auch bei der Ökumenischen Jury durchaus mehrere andere Kandidaten im Rennen, die einen Preis verdient gehabt hätten. Dazu gehört das in den USA entstandene Werk „Her Composition“ des deutschen Regisseurs Stephan Littger. Es ist die Geschichte der jungen Komponistin Malorie (Joslyn Jensen), die sich in einer Schaffenskrise als Call-Girl verdingt. Die Komplexität der eigenen Seelenwelt korrespondiert mit der Komplexität der Mega-City New York in synästhetischer Erfahrung, welche zunächst als Mind-Mapping angelegt wird, dann in eine erfolgreiche musikalische Aufführung mündet und für die junge Frau Selbstbestätigung und Autonomie bedeutet. Der Film ist – wenn man so will - eine künstlerisch gekonnte Version des Sterntaler-Märchens.

 

Ein kleiner, feiner Film ist „Luca tanzt leise“ von Philipp Eichholtz. Er handelt ebenfalls davon, wie eine junge Frau (glaubwürdig: Martina Schöne-Radunski als Luca) auf einer Gratwanderung zu einem selbstbestimmten Leben unterwegs ist; immer wieder droht der Absturz, immer wieder sind schlechte Erfahrungen zu meistern. Das offene Ende lässt hoffen. Mit viel Lokalkolorit der ländlichen Luxemburger Lebenswelt in den 1940er Jahren hat der Luxemburger Christoph Wagner seinen Film „Eine neue Zeit“ gestaltet. Die Geschichte ist überwiegend traditionell, schlüssig und nicht zuletzt die historischen Zusammenhänge erhellend erzählt.  

Selbstfindungsprozesse thematisiert Leonie Krippendorf in ihrem Film „Looping“ am Beispiel dreier Frauen, die zufällig in einer psychiatrischen Klinik zusammentreffen. Der Film kreist dunkel um die Themen Einsamkeit, Sehnsucht und nicht erfüllter Hoffnungen, eröffnet aber gerade in den von Zärtlichkeit geprägten Momenten optimistische Perspektiven.

Eine Kategorie für sich zwischen Dokumentation und Fiktion füllt der Film „Desire will set you free“ von Yony Leyser aus. Er stellt eine irgendwie abgeschlossene, zugleich für allerlei Ausdrucksformen offene Szene in Berlin dar, die geprägt ist von Lust worauf auch immer, sexueller Freizügigkeit, Party, Rausch – aber auch Ernüchterung und Beziehungsstress. Eine zeitgenössische Coming-of-Age-Version liefert Florian Gaag mit „Lenalove“. Die geradezu „klassischen“ Irrungen und Wirrungen beim Erwachsenwerden sind hier mit aktuellen Widrigkeiten von Schüleralltag, Familienproblemen bis Cybermobbing kombiniert. „Sex & Crime“ von Paul Florian Müller ist ein flottes Stück Unterhaltungskino mit einer teils hanebüchenen Story, Splatter-Elementen und kuriosen Wendungen, das sein Publikum ebenso finden kann wie „Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel“ von Florian Schnell. Hier vermischen sich digitale und analoge Wirklichkeiten. Das  Spiel mit echter und Avatar-Identität macht Spaß; die Geschichte ist durchweg konsistent erzählt und mit viel Computer- und Überraschungseffekten ins Bild gesetzt. Was echte „Gamer“ davon halten mögen?

 

Weitere Preise und Filmreihen

Die Jury mit Franziska Aigner, Hans W. Geißendörfer und Max von Thun entschied über die Preise für Kurz- und mittellange Filme. Sie vergab den mit 5.000 Euro dotierten Kurzfilmpreis an „Pitter Patter goes my Haert“ von Christoph Rainer und sprach eine lobende Erwähnung für „Mayday Relay“ von Florian Tscharf aus. Den Preis für den besten mitttellangen Film erhielt Alex Schaad für „Invention of Trust“.  Der Publikumspreis für Kurzfilme (5.000 Euro) ging an „Born in the Battle“ von Yangzom Brauen, der Publikumspreis für mittellange Filme an „Route B96“ von Simon Ostermann. Erstmals wurde der Filmmusikpreis (3.000 Euro) vergeben. Er wurde Jörg Magnus Pfeil, Siggi Mueller und Patrick Puszko für die Filmmusik zu dem Dokumentarfilm „Passion for Planet“ von Werner Schuessler zuerkannt.

Wie immer gehörten mehrere Filmreihen zum Festivalprogramm. Eine war dem diesjährigen Ehrengast Marcel Ophüls, dem 1927 in Frankfurt geborenen Sohn von Max Ophüls, gewidmet. Als weiterer Ehrengast präsentierte die Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader eine kleine Reihe von Filmen von und mit ihr. Und auch der bei der Eröffnung mit einem Ehrenpreis gewürdigte Regisseur, Dozent und Produzent Nico Hofmann zeigte eine Filmreihe.

 

Offene Fragen ums Festival

Während des gesamten Festivals schwang die Frage mit: Wie geht es weiter? Es stand bereits fest, dass Gabriella Bandel die Festivalleitung abgeben wird – nicht ganz freiwillig, wie nach und nach bekannt wurde. Die Stadt Saarbrücken als in der Filmfestival Max Ophüls Preis gGmbH Verantwortliche hatte bereits angekündigt, Ende Februar die Nachfolge bekannt zu geben. Während des Festivals scharte Hans W. Geißendörfer „Freunde des Max-Ophüls-Festivals“ zusammen und gab vor der Presse eine Erklärung ab, in der eine öffentliche Ausschreibung der Festivalleitung gefordert wird. Im Nachgang hat nun Gabriella Bandel in der „Saarbrücker Zeitung“ verlauten lassen, dass sie einer von der Stadt veranlassten Kürzung Ihres Salärs um 40 Prozent nicht habe zustimmen können. Die Oberbürgermeisterin Charlotte Britz erntete mit Ihrer Ankündigung, dass die Stadt Saarbrücken und ihre städtischen Gesellschaften die Gelder für das Festival nicht kürzen werden, nicht nur Beifall, sondern auch Pfiffe. Dagegen applaudierte das Publikum der mit Tränen scheidenden Festivalleiterin Gabriella Bandel minutenlang. Nicht nur die Fachwelt ist gespannt, wie es mit dem wichtigsten deutschsprachigen Nachwuchsfilmwettbewerb weiter gehen wird. Auf dem Spiel steht nicht zuletzt der einzigartige sympathische Charakter des Filmfestivals Max Ophüls Preis.