Unzuverlässige Welten

Chinesisches Kino auf der 69. Berlinale. Von Karsten Visarius


Vorsichtig setzt Li Senlin einen Fuss vor den anderen. Sie geht auf Rollschuhen. Nicht, um schnell dahinzugleiten, durch die elterliche Wohnung, über die Straßen der südchinesischen Stadt Hangzhou, durch Parke und verborgene Höhlen, sondern um Schritt für Schritt nach einem Gleichgewicht zu suchen. Der Vater, der eine Niederlage der chinesischen Fußball-Nationalmannschaft in einen Sieg umdichtet, verschwindet für eine Dienstreise, die Mutter dringt hartnäckig auf Tischmanieren, eine Tante auf Besuch erzählt Geschichten aus einer Vergangenheit, in der es eine andere Li Senlin gab. In einem Aufsatz für die Schule reist sie in einem Raumschiff durchs All und kreuzt den Weg eines Jungen, der heißt wie sie. Er könnte das Alter Ego des Regisseurs Zhu Xin sein, der sich in seinem ersten Spielfilm MAN YOU (Vanishing Days) in seine Erinnerungen an die Schwelle zwischen Kindheit und Jugend zurücktastet. Und weiter zurück in eine Zeit, in der chinesische Städte noch nicht durch die Silhouette gleichförmiger Hochhausfassaden definiert waren und das Donnergrollen eines Gewitters über einen Fluss und bewaldete Hügel und nicht über den Beton vor den Fenstern und Balkonen zog. Im Heute steht ein rotes Fähnchen auf dem Fenstersims, scheint in einem träge strömenden Gewässer verlorenzugehen und taucht dann doch wieder vor dem Fenster auf.


Die traumähnliche, schwebende Atmosphäre einer Phase biografischer Verwandlung und offener Selbstentwürfe in Zhu Zins Forumsbeitrag kehrt in dem film noir THE SHADOW PLAY von Lou Ye (Panorama) wieder – als das Rätsel eines Verbrechens, in das der junge Polizeidetektiv Yang Jiadong bald als selbst Verdächtigter hineingezogen wird. Während einer Demonstration gegen den Abriss der Altstadt von Guangzhou stürzt der Direktor der städtischen Baukommission zu Tode. Über immer neue Rückblenden, widersprüchliche Versionen der Vorgeschichte des Falls und mehrfache mediale Brechungen durch Film-, Fernseh- und Überwachungskameras, die Optik ständiger Bewegung und schneller Schnitte entwirft der Film eine Welt, in der keinem Bild, keinem Eindruck, keiner Wahrnehmung zu trauen ist. In ihr treffen mondäne Nachtclubs auf triviale Begierden, Kopien auf Kopien. Auch wenn dem Zuschauer zuletzt eine Art Aufklärung gewährt zu werden scheint, bleibt der Eindruck eines rapiden Wandels, in der nicht nur der Held, Detektiv Yang, zu einem Schemen zerrinnt, sondern auch seine Geschichte.


Ein anderes Rätsel bleibt, warum Wang Xiaozhuais großartiger DI JIU TIAN CHANG (So Long, My Son) im Wettbewerb gezeigt werden konnte, Zhang Yimous YI MIAO ZHONG (One Second) „wegen technischer Schwierigkeiten in der Postproduktion“ aber nicht. Ein dritter (oder, nach dem Ausfall des Films von Zhang Yimou, zweiter) Wettbewerbsbeitrag eines chinesischen Regisseurs hat sich der schwankenden Wirklichkeit des modernen Chinas durch eine Bewegung an die Peripherie der urbanen chinesischen Moderne elegant entzogen. In der mongolischen Steppenkomödie ÖNDÖG (Ei) von Wang Quan’an sind die traditionellen Koordinaten des menschlichen Daseins noch intakt. Mitten in der Nacht und der endlosen Leere einer steppengrasbewachsenen Ebene stößt eine Polizeipatrouille auf den nackten Leichnam einer Frau. Ein zur Bewachung des Tatorts zurückgelassener Polizist hat alle Mühe, die Leiche mit einem Tuch wenigstens notdürftig zu bedecken, im Kampf mit dem kräftig wehenden Steppenwind und dem Befehl, auf keinen Fall irgendetwas anzufassen. Der junge Mann überlebt die eiskalte Nacht und seine Aufgabe nur deshalb, weil ihn eine bewaffnete Hirtin rettet und bei Gelegenheit entjungfert. Im Rahmen von Geburt und Tod, Sexualität und Gewalt, Eigenwilligkeit und Ordnung entfaltet sich der Film und erinnert uns an unsere Wurzeln, so ernsthaft wie komisch, mit aller Zeit und aller Weite des Blicks, die uns das Kino schenken kann.