Soziale Krisen, fragwürdige Helfer und starke Randexistenzen

Das 52. Internationale Filmfestival Mannheim – Heidelberg zeigte soziale Tragödien und nur wenige Funken der Hoffnung
Kamushiye darya / Silence of the Sea

Preis der Ökumenischen Jury: Kamushiye darya (Die Stille des Meeres) von Vahid Mousaian (© CiCinema)


Das Festival in Mannheim vom 20. Bis 29. November 2003 war nicht nur als „Festival der Newcomer“ ein Erlebnis. Außerhalb des Wettbewerbs liefen Perlen wie die großartigen Filme des für sein Lebenswerk geehrten Raoul Ruiz; aber auch Truffauts La nuit americaine. Weiter gab es Filme zu sehen, die bekannte Vorlagen aufgreifen, so eine ausgezeichnete russische Verfilmung von Kafkas Verwandlung (Prevrashchenie, Regie: Valeri Fokin). Arbeiten von starken jungen deutschen Regisseuren waren im Programm, die andernorts schon aufgefallen sind (etwa Milchwald von Christoph Hochhäusler), oder der kluge und charmante Film der Mannheimer Regisseure Stefan Hillebrand und Oliver Paulus Wenn der Richtige kommt. Er handelt von einer Mannheimer Putzfrau, einer Deutschen, die dem angeschwärmten Kollegen einer Sicherheitsfirma, der in die Türkei verheiratet wird, zu dessen großer Überraschung nachreist. Für die Ökumenische Jury stand der Wettbewerb im Mittelpunkt, der einige thematische Grundlinien erkennen ließ.

Zwiespalt nach der Flucht

Der iranische Film Khamoushiye darya (Die Stille des Meeres) von Vahid Mousaian, mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet, bearbeitet ein Flüchtlingsschickal. Dabei kehrt er allerdings die Richtung um, die man sonst von Darstellungen der Erfahrungen Einzelner in den weltweiten Flüchtlingsströmen kennt. Hier hat die Hauptfigur, der Exiliraner Siavash, große Schwierigkeiten beim Versuch, in sein Land zurückzukehren. Er läßt seine gesichertes Leben in einem verschneiten Schweden hinter sich, seinen Beruf in einem Krankenhaus und seine Familie, um noch einmal das Land seiner Kindheit zu besuchen. Der Film findet Bilder, die zugleich reale Verhältnisse anzeigen und präzise filmische Metaphern für die Ortlosigkeit zwischen ferner neuer und politisch unzugänglicher alter Heimat sind.

Siavash landet auf einer Insel, einem Freihandelshafen ohne Visumpflicht in Sichtweite der iranischen Küste. Schmuggel bestimmt die Ökonomie der Insel, auch die von armen Flüchtlingen, die von der iranischen Seite in Motorboten gejagt werden. Siavash findet einen Helfer, der ihm ein Mobiltelefon beschafft. Damit telefoniert er mit seinem Bruder im Iran und mit seiner schwedischen Frau und den Kindern  – die akustischen Fernbezüge mobiler Kommunikation ändern aber nichts an der Situation Siavashs, der von der Insel, mit ihrem ariden Wüstenklima, nicht wegkommt, weder in den Iran, zu seinem Bruder und dem Grab seiner Eltern, noch zurück nach Schweden. Er ist zerrissen zwischen den Welten, und seine Telefonate treten an die Stelle innerer Stimmen, die die seelische Gespaltenheit des Exilierten bekunden. Inzwischen arbeitet Mousaian bereits an seinem nächsten Projekt, einem Film über die Situation der Kurden zwischen Irak, Iran und Türkei.


Filme nach dem Ende des Sozialismus: Armut, Gewalt und mafioser Sumpf

Der in gelbstichigen Orwo-Farben gedrehte Film Pod edno nebe (Unter dem selben Himmel) des Bulgaren Krassimir Krumov war der zweite Flüchtlingsfilm des Festivals, über ein junges Mädchen in einem überwiegend von Jugendlichen und Alten bevölkerten, von den Arbeitsfähigen aber verlassenen Bergbauerndorf. Sie plant, auf illegalen Bergpfaden der Spur ihres schmerzhaft vermissten Vaters zu folgen, der vor Jahren als Wirtschaftsflüchtling in die Türkei ging. Hier wird die Flucht zur Möglichkeit der Selbstfindung des Mädchens. Ihren Vater verfehlt sie vielleicht, wird dabei aber erwachsen – Möglichkeiten einer anderen Zukunft deuten sich zart an. In dem Film von Krumov werden die mafiosen Verhältnisse und der weite Bereich illegaler Strukturen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nur angedeutet, ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch Filme aus Osteuropa zieht. Alle diese Filme haben inszenatorische Probleme, Längen, eine überladenene Metaphorik, so als drücke das Thema die Filme in zuweilen schwer erträgliche Breite.

Da ist der rumänische Film Furia (Wütend) von Radu Muntean, der zwei Freunde zeigt, die sich mit illegalen, manipulierten Autorennen durchs Leben schlagen und Schulden bei einem rachsüchtigen Mafiaboss machen. Sie werden von seinen Schergen verfolgt, der eine umgebracht, der andere nimmt grausam Rache; am Ende steht eine Gewalttat, die an Kieslowskis „Ein kurzer Film über das Töten“ erinnert – mit dem Unterschied, dass der Gewaltexzess hier ein verständlicheres Motiv hat. Ganz anders geht Sauja lozu (Beautiful Losers, Regie: Una Celma) mit Armut in Lettland um, indem er den finalen Gewaltausbruch gerade noch vermeidet und eine Möglichkeit der Rettung andeutet. Er inszeniert eine Dreiecksgeschichte zwischen einem Onkel und seinem Neffen, einem empfindsamen Teenager, der eine Prostituierte in die gemeinsame Unterkunft aufnimmt. Armut, Rivalität, die Arbeit in einer Munitionsfabrik und Freizeitvergnügen, die ein echtes Spiel mit dem Feuer sind: noch einmal ein osteuropäischer Elendsbilderbogen mit Film Noir – Anklängen.

Selbst der komödiantische Rinaldo (Regie: Tamaś Tóth) aus Ungarn, der den Kampf einer bunten Truppe von einfachen Bewohnern einer verfallenden Gründerzeitmietskaserne gegen die mafiose Bande der Prügelschergen der Spekulanten verteidigt, bleibt bei allem Spaß letztlich visionslos. Der Messerwerfer Rinaldo, ein arbeitsloser Zirkuskünstler, wird von den Mietern gebeten, sie zu verteidigen. Das Ballett seiner fliegenden Messer verweist darauf, dass nur ein Wunder in diesen Verhältnissen einen Ausweg bieten könnte.


Donau, Dunaj, Duna, Dunav, Dunarea von Goran Rebic mit Otto Sander, Robert Stadlober und der attraktiven Annabel Mandeng in den Hauptrollen gewann den Publikumspreis mit einer sehr viel sanfteren, darin manchmal ans Kitschige grenzenden Geschichte. Sie schildert die Reise eines Waisen, der auf dem alten, schrottreifen Donaukutter mit dem titelgebenden Namen von Wien zum Schwarzen Meer fährt. Er hat den Sarg seiner Mutter dabei, einer rumänischen Olympiasiegerin im Schwimmen, den er auf ihren Wunsch am Eisernen Tor versenken soll. Episodenartig fügt der Film in jedem Land eine Geschichte eines der Besatzungsmitglieder ein. Die vielleicht stärkste ist die eines serbischen Flüchtlings, der vor Krieg und Militär geflohen ist und nun zu seiner zurückgelassenen Frau und seinen Kindern heimkehrt –  unsicher, ob er willkommen ist. Der trotz symbolistischer Überfrachtung und zuweilen alzu schlichten Auflösungen sehenswerte Film findet schöne Bilder der Landschaft, Architektur und Menschen entlang des Flusses, zum Beispiel von der von Natobomben zerstörten Brücke in Novi Sad, auf der jetzt Kinder mit Fahrrädern ins Wasser rauschen.


Fragwürdige Helfer – Dubiose Sanftmut

Ein starker Themenkomplex setzte sich mit der Fragwürdigkeit und Ambivalenz des Drangs zu Helfen auseinander, mit Klischees sozialen und fürsorglichen Handelns. In dem schwedischen Film Miffo (Regie: Daniel Lind Lagerlöf, Spezialpreis der Internationalen Jury) kommt der junge, sozial engagierter Pfarrer Tobias in ein armes Hochhausviertel und verliebt sich dort in die an den Rollstuhl gebundene Sozialhilfeempfängerin Carola. Sie ist hübsch, anziehend, selbstbewußt und sicher kein bejammernswertes Geschöpf. Er schafft es aber nicht, seine eigene Herkunft hinter sich zu lassen, sie ist ihm in ihrer prolligen Art und auf Grund ihrer Behinderung gegenüber seinem bildungsbürgerlichen Umfeld peinlich. Als leichte Komödie etwas oberflächlich inszeniert, entlarvt der Film doch Klischees des fürsorglichen Umgangs mit Behinderten wie auch die starren inneren Grenzen bürgerlichen Sozialverhaltens – liberale Toleranz ist schnell erschöpft. 

Aus der Helferrolle fällt auch der Tankstellenangestellte Lars in Tvilling (Sternzeichen Zwilling, Regie: Hans Fabian Wullenweber), der mit seiner kranken Mutter zusammenlebt und sie pflegt. Sie stellt sich dabei schwächer, als sie ist, um ihren Sohn an sich zu fesseln. Als er sich in Julie verliebt, die nach dem Tod ihres Freundes einen seelischen Zusammenbruch erleidet, wechselt er in die nächste symbiotische Beziehung und läßt seine alte, tyrannische Mutter links liegen. In seiner Helferrolle offenbart sich die Unfähigkeit, sich aus solchen symbiotischen Beziehungen zu lösen.

In J’ai toujours voulue être une sainte (Ich wollte immer eine Heilige sein, Regie: Geneviève Mersch) aus Luxemburg ist es ein Mädchen, das durch die Entfaltung „mütterlicher“ Aktivität die Abwesenheit der eigenen Mutter kompensiert. Die Teenagerin arbeitet neben der Schule in einem Kindergarten und kümmert sich besonders um die kleine Tochter einer alleinerziehenden Mutter. Ihr Einsatz an der Grenze zum Überengagement scheitert. Sie bewegt die Mutter des Mädchens zur Einrichtung eines Kinderzimmers – wenige Wochen später wird es jedoch wieder als Rumpelkammer genutzt. Sie bringt heimlich eine von ihrer Schulfreundin gestohlene Kamera zurück, wird erwischt und des Diebstahls bezichtigt. Schließlich begibt sie sich auf die Suche nach der Mutter, findet sie und wird enttäuscht. Ihre Sehnsucht nach der Mutter hat mit der realen Mutter nichts zu tun, die ihre Tochter eigentlich nicht kennen will.


Broidit (Brüder) des Finnen Esa Illi gehörte auch formal zu den interessantesten Filmen des Festivals. Zwei vollständig unterschiedliche Lebenskonzepte prallen aufeinander. Joni richtet sein Leben nach dem I-Ging, nach den Zufallsgesetzen des chinesischen Orakels, und auch das ist bloß ein Spiel. Er ist ins estnische Pärnu gegangen, wie er Sami erzählt. Später erhält der ältere Bruder einen Anruf aus der Klinik. Joni leidet an einem Rückfall seiner Leukämie und will es nicht wahrhaben, sondern läßt sich treiben. Der aktivistische Sami bricht auf, um ihn in Pärnu zu suchen. Sami findet ihn schließlich, er hat dort ein Kind mit einer Frau, die offenbar nichts von seiner Erkrankung weiß. Mit Überredungskunst, aber auch mit unfairen Mitteln gelingt es dem stärkeren Bruder, den jüngeren zur Therapie zurück nach Finnland zu schaffen. Am Ende stehen, wie schon am Anfang, Sami und die junge Frau an einem Felsen und streuen die Asche des Gestorbenen aus einer Urne ins Meer.

In den Lebensmodellen der Brüder spiegeln sich einerseits klassische, vernünftig-aufgeklärte, humane, vielleicht christlich geprägte Werte, der Glaube an die Mittel der technischen Zivilisation, andererseits im Westen neue, asiatisch eingefärbte Lebenseinstellungen. Sind die Konzepte eines freieren, undeterminierten Lebens des Jüngeren der pure Unsinn angesichts seiner lebensbedrohlichen Krankheit? Die Alternative von Egozentrismus versus Fürsorge und Familiengemeinschaft wird nicht entschieden. Darin ist der Film konsequent und irritierend.


Gelegentliche Hoffnungen und  Momente echter Fürsorge waren vor allem in Liebesbeziehungen zu spüren. Einer der schönsten Filme des Festivals war dabei der japanische Film Vibrator (Ein merkwürdiges Verhältnis, Regie: Ryuichi Hiroki, Lobende Erwähnung der Hauptjury), der von einer jungen Frau erzählt, die bei einem Trucker in einen modernen High-Tech-Truck einsteigt, als sie an der Tankstelle für sich Alkohol einkaufen will. Was als reines Sexabenteuer beginnt, entwickelt sich zu einer kurzen Liebesgeschichte, bei dem beide ihre Fassade ein stückweit preisgeben, aber dennoch ihr Geheimnis bewahren. Der Film mischt comichafte Passagen, Abenteuer- und Gangsterfantasien und psychologisch feine Andeutungen des Innenlebens der Charaktere. Die Männerrolle ist dabei ungewöhnlich, weil hier ein scheinbar harter Kerl mit der bulimiekranken und liebessehnsüchtigen Frau einfühlsam umgeht. Unvergeßliche Liebesszenen zeigt der Film, wenn die beiden viele Minuten lang beim sonorem Bassbrummen des Trucks ihre Körper entdecken.. Ironie, Romantik und Menschlichkeit stehen momentweise widerspruchslos nebeneinander.

So bot das Festival ein prismatisch aufgefächertes Bild sozialer Szenarien in einer ökonomisch und menschlich prekären Weltlage – regional sehr unterschiedlich, ohne Illusion oder gar Perspektive. Die harsche Kritik am sozialen Pathos gerade im westeuropäischen Kino läßt dabei auch ein Unwohlsein zurück. Das Kino sucht nach Bildern, die genauer sein können als die Floskeln populärer Debatten über „Gutmenschentum“, sozialen Neid und andere flankierende Diskurse zum Rückbau des Sozialstaats Hier wünscht man sich die positive Kraft überzeugender Zukunftsbilder, die das Irreale nicht scheuen. Die aussichtsreichsten Momente gelingen so jenen Filmen, in denen die Charaktere benachteiligter Gestalten komplex und verständnisvoll entfaltet werden und die Einzigartigkeit jedes Schicksals, seiner Armut und seiner Anmut, ernst genommen wird.