Katholizismus, NS-Widerstand und Corona

Berlinale 2024 (1)
Eröffnung Berlinale 2024: Carlo Chatrian und Mariëtte Rissenbeek

Carlo Chatrian und Mariëtte Rissenbeek mit den Moderatoren Hadnet Tesfai (links) und Jo Schück (rechts) bei der Berlinale-Eröffnung (© Richard Hübner / Berlinale 2024)


Es gab große Vorschusslorbeeren als Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian 2019 die Leitung der Berlinale übernahmen. Vollmundig versprachen sie strukturelle Reformen, das Programm sollte entschlackt, die Konturen des Wettbewerbs und der Nebenreihen geschärft werden. Fünf Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus. Eine Sektion wie das „Kulinarische Kino“ ist verschwunden, auch die Reihe "Perspektive Deutsches Kino" wurde aufgelöst. Dafür installierte der künstlerische Festivalleiter Carlo Chatrian mit „Encounters“ einen Nebenwettbewerb inclusive eigener Jury, wobei unklar bleibt, wer hier wem begegnen soll. Auch die Reihen „Berlinale Gala“ und „Gala Spezial“ wurden ausgeweitet. Insgesamt zeigte die Berlinale in diesem Jahr 236 Filme (inklusive Kurzfilme) gegenüber 287 im Vorjahr - eine deutliche Verschlankung.

Toxischer Katholizismus

Die Eröffnung mit „Small Things Like These“ (Kleine Dinge wie diese, Irland, Belgien 2024) fiel ziemlich eindrucksvoll aus. Cillian Murphy, Oscar Kandidat für seine Rolle in „Oppenheimer“, spielt den Kohlenhändler Sam Ferguson in einer irischen Kleinstadt der 1980er Jahre. Wir beobachten ihn bei seiner Arbeit, ohne zu wissen, worauf der Film hinauslaufen wird. Allmählich setzen sich einzelne Bilder und Eindrücke zu einem größeren Bild zusammen, wir beginnen, Zusammenhänge zu verstehen. Dabei konzentriert sich die Kamera intensiv auf das Gesicht des Hauptdarstellers. Die Dialoge sind beiläufig und zurückhaltend, fast alles wird über Blicke und Gesten erzählt.


Zu den Kunden des Kohlenhändlers zählen auch die Nonnen der Magdalene Sisters, die sich um „gefallene Mädchen“, d.h. unverheiratete schwangere Frauen kümmern. Im Heim müssen sie unbezahlt in der Wäscherei arbeiten, ihre Kinder werden ihnen nach der Geburt weggenommen. Cillian Murphy spielt den Protagonisten als einen leisen Melancholiker, einen Familienvater mit fünf Töchtern, der in schlaflosen Nächten von Erinnerungen an die Traumata seiner Kindheit heimgesucht wird. Was er im Heim der Magdalene Sisters beobachtet, lässt ihm keine Ruhe. Aber in den 1980er Jahren ist die katholische Kirche in Irland immer noch eine alles beherrschende Institution, mit der man sich besser nicht anlegt. Obwohl ihn seine Frau warnt („These nuns have their fingers in every pie“/die Nonnen haben ihre Finger überall drin), trifft er eine folgenschwere Entscheidung, die sein Leben und das seiner Familie nachhaltig belasten wird.

In der Pressekonferenz beschrieb Cillian Murphy seine Figur als „a Christian man who does a Christian thing in an un-Christian society” (ein Christ, der eine christliche Tat in einer unchristlichen Gesellschaft  begeht).

Den jahrzehntelangen Missbrauch in irischen Mädchenheimen hatte schon Peter Mullan in seinem Film „The Magdalene Sisters“ (Großbritannien, Irland 2002) thematisiert. Auch „Philomena“ von Stephen Frears Großbritannien 2013) behandelt das Trauma einer jungen Mutter, deren Kind zur Adoption an eine ‚christliche‘ Familie weggeben wurde.

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der irischen Autorin Claire Keegan, der in Irland ein großer Bestseller war und 2022 im Steidl Verlag auf Deutsch erschienen ist. Der renommierte Theaterautor Enda Walsh schrieb das Drehbuch, Regie führte der Belgier Tim Mielants, mit dem Cillian Murphy bei der erfolgreichen Serie „Peaky Blinders zusammenarbeitete.


Mit einer anderen Form von toxischem Katholizismus beschäftigen sich Veronica Franz und Severin Fiala in „Des Teufels Bad“ (Österreich, Deutschland 2024). Oberösterreich im 18. Jahrhundert, in einem Dorf zerbricht die jung verheiratete Marie (Anja Plaschg, die auch die Filmmusik komponiert hat) am rauen Alltag an der Seite ihres Mannes. Sie ist ein zartes, romantisches Gemüt, beobachtet lieber die Natur und sammelt Schmetterlinge, anstatt im trüben Teich Karpfen zu fangen. Die Einsamkeit im abgelegenen Haus mitten im Wald macht ihr zunehmend zu schaffen. Die gottesfürchtige Marie wird krank, sie will nicht mehr aufstehen, der Selbstmord eines Dorfbewohners wirft sie endgültig aus der Bahn. Um nicht so zu enden wie er, der kein christliches Begräbnis bekommt und auf den Acker geworfen wird, bringt sie einen Jungen um und beichtet anschließend. Denn als reuige Sünderin darf sie auf himmlische Vergebung hoffen, selbst wenn sie später hingerichtet wird und man ihren Kopf und Körper als Menetekel im Wald aufstellt. Wie man im Abspann erfährt, soll es über 400 Fälle von Frauen gegeben haben, die im 18. Jahrhundert auf diese Weise den Tod suchten.

„Des Teufels Bad“ – der Titel bezieht sich auf eine zeitgenössische Bezeichnung für Melancholie - erzählt von einem dunklen, wenig bekannten Kapital weiblicher Geschichte im Zeitalter der Aufklärung.

Große Namen

Andreas Dresen ist eine Größe im deutschen Kino. Sein neuer Film „In Liebe, Eure Hilde“ war ein Höhepunkt des ersten Berlinale-Wochenendes. Im Mittelpunkt steht die historische Figur Hilde Coppi (Liv Lisa Fries), die zusammen mit ihrem Mann Hans im Widerstand gegen Hitler Funksprüche nach Moskau schickte. Sie ist schwanger, als sie verhaftet wird, und bringt ihr Kind im Gefängnis zur Welt. Ihre Freundesgruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen wurde als „Rote Kapelle“ bekannt. Wegen ihrer kommunistischen Überzeugung wurden sie nach dem Krieg im Westen beiseitegeschoben und in der DDR als Helden des Widerstands überhöht.


Andreas Dresen gelingt ein differenziertes Bild junger Menschen, das alle NS-Klischees vermeidet. Er braucht keine Hakenkreuzfahnen, Aufmärsche und Nazi-Uniformen, um die historischen Umstände zu rekonstruieren. Das wurde ihm von Kritikern als inhaltlicher Mangel vorgeworfen, anderen war der Film zu „konventionell“. Ein Todesurteil im Kontext eines Festivals. Doch beide Vorwürfe gehen ins Leere. Dresen und seiner Drehbuchautorin Laila Stieler zeichnen das atmosphärisch dichte Portrait einer mörderischen Zeit, in der Widerstand eine Frage von Leben und Tod ist. „An Hilde Coppi hat mich fasziniert,“ sagt die Autorin, „dass sie so wahnsinnig jung war, als sie in den Widerstand ging. Diese Jugend und dieser Mut, das fand ich anziehend. Zugleich war sie eine sehr fragile, fast ängstliche Erscheinung. Das steht im starken Kontrast zu dem, was sie getan hat. Das fand ich hochinteressant.“

Dabei folgt der Film konsequent der weiblichen Perspektive seiner Protagonistin. Wir sehen und erfahren nur, was Hilde erlebt. Ebenso wenig wie sie erhalten wir keine zusätzlichen Informationen über die anderen Mitglieder der Gruppe oder die Details ihrer Widerstandsaktionen. (Ein prominenter Kritiker hielt diesen Ansatz für ein Manko des Films und wies darauf hin, Hilde Coppi sei schließlich „Kommunistin“ gewesen.) Liv Lisa Fries verkörpert die zentrale Hauptfigur auf eindrucksvolle Weise. Ganz ohne den künstlichen Berliner Dialekt, den man ihr in der Serie „Babylon Berlin“ verordnet hat. Es wirkt wie eine bittere Ironie, dass sich bei Nachforschungen in russischen Archiven herausstellte, dass von allen Funksprüchen der Roten Kapelle nur ein einziger in Moskau angekommen ist.

„In Liebe, Eure Hilde“ wirkt authentischer und näher an seinen Figuren als andere Filme, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt haben. Nach meiner Einschätzung eine der intelligentesten filmischen Annäherungen an die NS-Zeit, die man in Deutschland im Kino gesehen hat.

Auszeit Corona

Über Olivier Assayas braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Er ist ohne Zweifel einer der vielseitigsten und experimentierfreudigsten Regisseure des französischen Gegenwartskinos. Mit „Hors du temps“ (Außerhalb der Zeit, Frankreich 2024) erinnert Assayas auf überraschend heitere Weise an die Zeit des Covid-Lockdowns, die in Frankreich als „confinement“ bezeichnet wurde. Dabei verbindet er autobiographische Reflektionen mit der Geschichte von zwei Brüdern, die sich eingeschlossen im Landhaus der Eltern gegenseitig auf die Nerven gehen. Gedreht hat Assayas übrigens im Landhaus seiner Kindheit, wo er selbst heute lebt.


Paul (Vincent Macaigne) befolgt mit fundamentalistischem Eifer alle Corona-Regeln, bestellt manisch bei Amazon und lässt die Päckchen vier Stunden lang vor der Tür liegen, damit sich, wie er glaubt, die Oberflächenkontamination abbaut. Sein Bruder Etienne (Micha Lescot) ist ein cooler Rock-Kritiker mit einer Vorliebe für Crêpes, der die Frisur seiner Jugend beibehalten hat. Die Corona-Hysterie seines Bruders geht ihm furchtbar auf die Nerven, was zu heftigem Streit und absurden Dialogen führt. Dazu kommen die weiblichen Partnerinnen, die wie die Männer damit beschäftigt sind, ihre alten Beziehungen oder Ehen zu organisieren. Wie es sich für französische Intellektuelle gehört, geizt man nicht mit literarischen und kulturellen Anspielungen, z.B. auf Eloise und Abelard, Racine oder den englischen Maler David Hockney. Ohnehin sehen Haus und Garten aus, als seien sie einem impressionistischen Gemälde von Claude Monet entsprungen. Im Park blühen blaue Feldblumen, das Gras wiegt sich im Wind. Bei Rückblenden in die eigene Jugend wechselt die Szenerie kurzerhand in Schwarz/Weiß. Ein Feel-Good-Movie über die positiven Seiten des Corona Lockdwns – très français.