Grüße nach Teheran

Bericht zum 44. Internationalen Film Festival Karlovy Vary 2009 von Heinz Kersten (Berlin), Mitglied der Oekumenischen Jury

„Ich bin dieser Quelle eine ganz andere Existenz schuldig“ ist als Goethe-Zitat auf einer Tafel zu lesen am Haus, das der Dichter bei einem seiner Aufenthalte in Karlsbad bewohnte, als eine von vielen europäischen Berühmtheiten, die früher zu regelmässigen Gästen des böhmischen Kurortes zählten. Im heutigen Karlovy Vary sprudeln neben heilenden einmal im Jahr auch cineastische Quellen, die zwar nicht gleich zu einer ganz anderen Existenz führen, aber doch den Blick auf kinematografische Welten öffnen, die uns sonst meist verschlossen bleiben.

Wie jedes Jahr viele junge Festivalbesucher

Immer noch gehören osteuropäische Filme zu den Raritäten in unserem Kinoalltag, obwohl sich ihre Qualität mit dem dort dominierenden Leinwandfutter mindestens messen kann. Bestätigt fand man das wieder vor allem in der traditionellen Festivalsektion „East of the West“, eine der 25 Sonderreihen neben den 14 Beiträgen des Spielfilm-Wettbewerbs. Gesehen wurde das insgesamt 232 Filme, darunter 27 deutsche, umfassende Mammutprogramm von fast 145‘000 Besuchern, meist jungen Leuten, die dazu jedes Jahr aus der ganzen Republik anreisen, teils in Parks oder den Korridoren des Festivalcenters übernachten und zur einzigartigen Atmosphäre in Karlovy Vary beitragen.

Historische Erinnerungen

Der historische Einschnitt von 1968 ist für sie nur noch Geschichte und wird von Filmemachern aus der Distanz inzwischen auch mal humorvoll betrachtet. In Jacek Glombs Debut „Operation Donau“ verirrt sich bei der Invasion ein polnischer Panzer, dessen Besatzung weisgemacht wurde, sie kämen den tschechischen Brüdern gegen einen deutschen Überfall zu Hilfe, in ein böhmisches Dorf, wo die Bewohner (unter ihnen Jiri Menzel) sie alles andere als freundlich empfangen. Doch allmählich kommt man sich näher, und zuletzt setzen beide sogar gemeinsam einen sowjetischen Panzer ausser Gefecht.

Ernsthaft wird Vergangenheit lebendig im Rückblick auf den Einsatz tschechischer Soldaten während des Zweiten Weltkriegs an der Afrikafront („Tobruk“ von Václav Marhoul) und das Schicksal einer jüdischen Familie unter dem faschistischen Tiso-Regime in der Slovakei („Nedodržený slub“ von Jirí Chlumský). Wie hier stützt sich auch der Gegenwartsfilm „El Paso“ von Zdenek Tyc auf einen authentischen Hintergrund: der Kampf der Roma-Witwe um das Sorgerecht für ihre sieben Kinder und gegen rassistische Vorurteile.

Problematische Eltern/Kind-Beziehungen

Im dänischen Wettbewerbsbeitrag „Applaus“ von Martin Pieter Zandvliet will eine Mutter unbedingt ihre beiden geliebten kleinen Jungen zurückhaben, von denen die erfolgreiche Schauspielerin wegen ihrer Alkoholprobleme getrennt wurde. Paprika Steen erhielt dafür den Preis als Beste Darstellerin. Beziehungen zwischen Eltern und Kindern wurden auffallend häufig thematisiert. Weniger überzeugend gelang das bei einem Vater-Sohn-Verhältnis in „Un ange à la mer“ des Belgiers Frédéric Dumont, dem die Jury zur Überraschung Vieler den Hauptpreis des Kristallglobus zusprach. Die mit Ausnahme des Zwölfjährigen zur Zerrüttung der Familie führende manische Depression des Vaters wird dem Zuschauer erst allmählich und nur ungefähr deutlich. Zur Vermittlung stand dem Regisseur wohl seine autobiographische Nähe zum Stoff im Wege.
Interessante Wettbewerbsbeiträge

Leider übersah die Jury das Filmdebut „Volcok“ des mit 32 Jahren bisher nur als Theaterautor erfolgreichen Russen Vassily Sigarev. Der Kampf eines kleinen Mädchens um die Liebe seiner Mutter, der Alkohol und ständig wechselnde Männerbekanntschaften wichtiger sind als die Vereinsamung ihrer unerwünschten Tochter, wird in einer Mischung aus hartem Realismus und poetischer Phantasie erzählt und stellt den Film in eine Reihe düsterer Zustandsbeschreibungen des Lebens in der russischen Provinz. Formal gehört „Volkcok“ – beim russischen Filmfestival KINOTAUR in Sotschi mit dem Hauptpreis und Yana Troyanova als Beste Darstellerin ausgezeichnet – mit seiner Stilisierung zu den interessantesten Beiträgen im Wettbewerb von Karlovy Vary. Dasselbe gilt für den Minimalismus des südkoreanischen Films „Barami Memounen Got, Himalaya“ von Jeon Soo-il. Eine Geschäftsreise führt den Protagonisten nach Nepal, wo er Tage bei einer Familie in einem abgelegenen Dorf verbringt. Ohne Musik und viele Worte fasziniert die fast ethnographische Studie einer Flucht aus dem Alltag durch die stumme Präsenz der Landschaft.

Verschiedene osteuropäische Filme thematisierten Folgen des Umbruchs, die mit dem Kapitalismus auch Korruption, Geldgier und Werteverfall brachten. An der nun geöffneten deutsch-polnischen Grenze begegnen sich Reichtum und Armut, deren Kontrast dazu führt, dass sich polnische Jugendliche an deutsche Freier verkaufen. In der deutsch-polnischen Coproduktion „Swinki“ zeigt das Robert Glinski  („CzescTereska, 2001“) ohne zu moralisieren, zunehmend krass, dabei im zweiten Teil aber leider auch etwas ins effektvoll Spekulative abrutschend. Das Publikum feierte den jungen Hauptdarsteller Filip Garbacz, den auch die Jury bei ihren Darstellerpreisen mit einer Erwähnung heraushob.

Den Regiepreis verdiente sich Andreas Dresen. Seine Tragikomödie über Film im Film „Whisky mit Wodka“ ist mehr als das: eine fast philosophische Reflexion über menschliche Einsamkeit, Erinnerung und Trauer über zerbrochene Beziehungen, Alleinbleiben im Alter. Neben Corinna Harfouch ist Henry Hübchen grandios als Schauspielerstar, für den wegen seiner bekannten Gefährdung durch Trinken vorsichtshalber ein Double engagiert wird (Markus Hering). Dasselbe geschah Raimund Schelcher, als er 1956 die Hauptrolle in Kurt Maetzigs DEFA-Film „Schlösser und Katen“ spielte, und diese wahre Story lieferte Wolfgang Kohlhaase den Stoff für sein genial zwischen Humor und Tragik balancierendes Drehbuch mit viel amüsanten Insider-Jokes.

Preis der Ökumenischen Jury für iranischen Film

Die Oekumenische Jury entschied nach ausführlichen fruchtbaren Diskussionen einstimmig, ihren Preis dem iranischen Regisseur Abdolreza Kahani für seinen Wettbewerbsbeitrag „Bist“ zuzuerkennen. Die Übersetzung des Titels „Zwanzig“ bezieht sich auf die Tage, die bis zur Schliessung eines Restaurants bleiben, das der kranke alternde Besitzer aufgeben will, weil es als Ort für Trauer- und Hochzeitsgesellschaften immer weniger einbringt. Das drohende Aus beunruhigt vor allem die Angestellten, für die ihr Arbeitsplatz auch so etwas wie ein Zuhause bedeutete. Mit menschlicher Wärme vermittelt „Bist“ Einblicke in den Alltag einfacher Leute in Teheran.

Von bisher drei Filmen des 35jährigen Regisseurs wurden zwei niemals in Iran gezeigt, mehrere seiner Drehbücher von der Zensur nicht akzeptiert. Bei der offiziellen Preisverleihung, die, gleich der Eröffnung, nach alter Karlsbader Festivaltradition mit einfallsreichen Show-Effekten eingeleitet wurde, forderte Abdelreza Kahani nach Entgegennahme des Spezialpreises der Grossen Jury das Auditorium zu einem stehenden Beifall für das iranische Volk auf. Vaclav Havel klatschte mit.