Fribourg, mon amour

Bericht zum 37. Festival international du film de Fribourg


INTERFILMs Festivaldelegierte Brigitte Affolter würdigt die 37. Ausgabe des Festival international du film des Fribourg und Thierry Jobin, den künstlerischen Leiter des Festivals, verbunden mit der Vorstellung von drei Wettbewerbsfilmen. Zwei davon werden von Mitgliedern der diesjährigen Ökumenischen Jury präsentiert.

An der Pressekonferenz vom 1. März verkündete der künstlerische Leiter, Thierry Jobin, dass das diesjährige Festival unter dem Motto des Austausches, der Geselligkeit und der Kochkunst stattfinden werde: «Unser Gaumen unterscheidet fünf Geschmacksrichtungen: süss, sauer, salzig, bitter und umami (der Geschmack wird als köstlich, wohlschmeckend und würzig beschrieben). Genau diese Vielfalt bietet auch das FIFF mit seinem Schwerpunkt auf der Kulinarik.»

Seit drei Jahren gibt es die Sektion GENREKINO, bei dem das Publikum das Programm bestimmen darf. Die fünf Favoriten 2023: Delicatessen, An (Sweet Bean), The Lunchbox, Fried Green Tomatoes, Ramen Shop, passten hervorragend zum Angelpunkt des Festivals. Man hatte nämlich die Möglichkeit, den Filmgenuss zu verlängern, weil sich einige Restaurants der Stadt von den selektionierten Filmen inspirieren liessen, ihre Speisekarten auf das FIFF- Programm abzustimmen, um das Kinovergnügen mit der passenden Mahlzeit auszudehnen.

Eine Begegnung mit dem Produzenten Ion Gnatiuc weckte bei Thierry Jobin den Appetit, das filmische Schaffen der Republik Moldau in der Sektion Neues Territorium ins Zentrum zu stellen. «Je verwurzelter ein Film in der Region ist», sagt er, «desto universeller wird er. Was für eine Entdeckung! Die Filme, bisweilen romantisch, oft metaphorisch, retten sich mit subtilem Humor vor der Absurdität vertrackter politischer Situationen.»

Auf der Menükarte der 37. Ausgabe gab es 99 Filme aus 52 Ländern aller Kontinente, darunter 12 Langspielwettbewerbsfilme, aus denen unsere Jurymitglieder (Stefan Haupt, Bernie Meier, Philippe Cabrol und Florence de Tienda) den diesjährigen Preisträger bestimmt haben.

Allem vorab: Die Wettbewerbsfilme sind seit einigen Jahren schwer verdaulich, und es ist anspruchsvoll, solche Kost mehrmals am Tag zu sich zu nehmen.

Drei Filmbeispiele sollen dies verdeutlichen.

PLAN 75 von Chie Hayakawa, Japan 2022

Der Film ist eine japanische Gesellschaftssatire, welche die Überalterung im Land ins Zentrum rückt. In naher Zukunft wird Menschen ab 75 die kostenlose Sterbehilfe (inklusive Farewell-Foto und Sterbe-Spa) empfohlen und gleichsam ans Herz gelegt. Hayakawa erzählt unter anderem das Schicksal der 78jährigen vereinsamten Michi, die ihren Job als «Hotelzimmermädchen» verloren hat, und so in eine wirtschaftliche Notlage gerät. Sie meldet sich deshalb bei Plan 75 an und findet in der ihr zugewiesenen Betreuerin Yoko eine Zuhörerin, durch die sie wieder neuen Lebensmut und Kraft für sich findet. Yoko ihrerseits gerät durch das Vertrauen, das ihr Michi entgegenbringt, in ein persönliches Dilemma mit ihrem Job.

Ein zweiter Erzählstrang zeigt den jungen Anwerber Hiromu, der sich engagiert für die Ziele von Plan 75 einsetzt und emotionslos Interessierte auf den Tod vorbereitet. Plötzlich aber erkennt er in einem neuen Bewerber seinen Onkel, den Bruder seines verstorbenen Vaters. Obwohl sie miteinander fortan nur Banalitäten austauschen, entwickelt Hiromu eine leise, zärtliche Annäherung zu seinem Verwandten; er verhindert zwar den Tod des Onkels nicht, bemüht sich aber, dass die Leiche nicht «entsorgt», sondern bestattet wird.

Die Lösungen, die das Drama zur Bewältigung der überalterten Gesellschaft Japans anbietet, lassen einen erschaudern und nachdenken.

«Plan 75» wurde mit dem Grand Prix, dem Critics’ Choice Award und dem Preis der Jugendjury Comundo ausgezeichnet. Das Werk enthülle "die radikalen Konsequenzen einer kalten und zynischen Gesellschaft", so die Jury des Critics’ Choice Award. Der Film ist ab dem 3. Mai in den Schweizer Kinos zu sehen.

ABANG ADIK von Jin Ong, Malaysia 2023 (Bernadette Meier)

Das Erstlingswerk des malaysischen Regisseurs Jin Ong ist ein Film von grandioser cineastischer Wucht und hat zu Recht den Preis der Ökumenischen Jury und den Publikumspreis des FIFF gewonnen. «Abang Adik» zeichnet sich durch ein klares, ehrliches Drehbuch, durch eine bildgewaltige Kamera, durch einen subtilen Filmsound (Musikeinsatz – Tongebung – Stille), durch das eindrückliche Spiel der Protagonisten und durch ein präzises Aufzeichnen des grossstädtischen Milieus und dessen Arbeitswelt aus.

Es ist die Geschichte der Brüder Abang und Adi, die vom Vater verlassen und deshalb versteckt - weil die nötigen Papiere fehlen - im Armenviertel einer Grossstadt leben. Abang, der Ältere, ist taubstumm (hervorragend gespielt und würdevoll inszeniert) und versucht den jüngeren, umtriebigen Adi zu schützen. Das Zusammenleben der beiden ist stets gefährdet durch den Stress der Polizeikontrollen im Quartier und dem täglichen Überlebenskampf.

Das körperbetonte, subtile Spiel der beiden und die Zärtlichkeit in ihrem Zusammenleben auf engstem Raum (Abang kocht zum Beispiel jeden Tag das Abendessen für seinen Bruder) sind unvergessliche Momente des Films.

«Abang Adik» ist ein Plädoyer für diese zarte (Bruder)Liebe und stille Solidarität der Menschen untereinander, die in grösster Not und Armut versuchen, ein würdiges Dasein zu leben. Es ist jedoch auch ein unbändiger Schrei gegen die Ungerechtigkeit und gegen die Ignoranz, welche Menschen am Rande der Gesellschaft auf der ganzen Welt erleben. «Abang Adik» ist ein filmischer Lichtblick und sollte vor allem einen Verleiher (nicht nur in der Schweiz) bekommen, ein begeistertes Publikum ist ihm gewiss. Für die Ökumenische Jury ist er ein «Plädoyer für Gerechtigkeit, Menschenwürde und gelebte Solidarität».

EL CASTIGO von Matias Bize, Chile 2022 (Florence de Tienda)

«El Castigo» ist wie ein klassisches Theaterstück aufgebaut, in drei Akten und drei Einheiten.

Zeiteinheit: ein Nachmittag; Ortseinheit: ein Wald und eine Straße; Handlungseinheit: das Verschwinden eines Kindes. Lucas ist der einzige Sohn von Ana und Mateo, einem bürgerlichen Paar, das mit dem Auto in den Wald gefahren ist und ihr siebenjähriges Kind aufgrund eines Konfliktes für zwei Minuten hat aussteigen lassen. Die ganze Geschichte wird in einer Plansequenz erzählt.

In dieser Kathedrale aus Bäumen werden der Vater und die Mutter mit dem schlimmsten Schmerz konfrontiert, den es gibt: dem Verschwinden ihres einzigen Kindes.

Die Kamera führt uns in alle Richtungen, und der Soundtrack lauscht der Stille, die nur von den Geräuschen des Waldes unterbrochen wird. Nur diese antworten auf den wiederholten Ruf des Namens.

Nachdem die Polizei die Suche aufgenommen hat, kommt das Paar allmählich zum Stillstand, bis es schließlich zu einem entscheidenden Dialog über das Leben als Mutter, Frau und Ehefrau, Vater, Mann und Ehemann kommt, der so treffend wie ergreifend ist.

Die Schauspieler Antonia Zegers und Néstor Cantillana bringen mit subtiler Intensität die Emotionen und Verwerfungen zum Ausdruck, die durch die Krisensituation hervorgerufen werden.

Durch ihre Auseinandersetzung entsteht eine Universalität, die jede und jeden von uns berührt, ausgehend von der Frage, die von unseren Gesellschaften gestellt wird: Was ist eine ideale Familie? Die Antwort kann nicht eindeutig sein, und dieser wunderbare Film ist ein leuchtender Beweis dafür.

Resumé

Das Thema des kulinarischen Films war ein toller Erfolg. «2023 war ein Jahr des Wiedersehens» sagte Mathieu Fleury, Vereinspräsident des FIFF an der Preisverleihung.

Thierry Jobins Rezept hat sich bewährt: Er setzt immer wieder auf ein junges Team, das den Besucher:innen ein Gefühl des Willkommenseins vermittelt und das FIFF so zu einem einmaligen Erlebnis macht. Der künstlerische Leiter hat zudem ein hörendes Herz und vertraut darauf, dass die kollektiven Emotionen des Publikums dazu beitragen, an der Hoffnung auf eine bessere Welt festzuhalten.