Engagiertes Kino und überraschende Preisträger

Die Berlinale 2024. Bericht von Jacques Champeaux, Mitglied der Ökumenischen Jury
My Favourite Cake (Maryam Moghaddam, Behtash Sanaeeha)

Preisträger der Ökumenischen Jury im internationalen Wettbewerb: "My Favourite Cake" von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha. Die Hauptdarsteller, Lily Farhadpour und Esmail Mehrabi (oben) nahmen die Auszeichnung bei der Preisverleihung der unabhängigen Jurys entgegen (© Hamid Janipour).


Die Berlinale ist politischer als Cannes oder Venedig. Mehrere Filme des diesjährigen Festivals beschäftigten sich mit dem Krieg in der Ukraine, der Palästinafrage, der Unterdrückung im Iran, jungen Männern, die in den Dschihad ziehen, oder Flüchtlingen aus dem Iran oder Syrien. Die Reden auf der Eröffnungsfeier, insbesondere die der Kulturministerin Claudia Roth, waren eindringliche Plädoyers für die Beendigung der Kriege in der Ukraine und in Gaza sowie für Frieden und Freiheit in der ganzen Welt. Die Gewinnerliste der Ökumenischen Jury spiegelt diese Tendenz wider, wobei der Preis im Wettbewerb an einen iranischen Film ging und der Preis und eine Lobende Erwähnung in der Sektion Forum an zwei Filme, die direkt oder indirekt den Krieg in der Ukraine thematisieren. Die Preisträger der internationalen Jury wiederum überraschten die meisten Mitglieder unserer ökumenischen Jury, da uns die ausgewählten Filme, auch wenn sie von hoher Qualität waren, nicht als die wichtigsten der Auswahl erschienen.

Die Entscheidungen der Ökumenischen Jury

Die Berlinale besteht aus zahlreichen Sektionen und umfasst Hunderte von Filmen. Die sechsköpfige ökumenische Jury sah alle Filme des Wettbewerbs und teilte sich in zwei Dreiergruppen auf, um etwa zehn Filme aus der Panorama-Auswahl einerseits und der Forum-Auswahl andererseits zu sehen. Die schiere Anzahl der zu sehenden Filme und die Verteilung der Kinosäle über die ganze Stadt führt zu langen und anstrengenden Tagen, aber der Gewinn dieser Verteilung ist ein tatsächlich in der Stadt verankertes Festival. Ohne die Vertraulichkeit der Juryberatungen zu verletzen kann man sagen, dass die Diskussion einfach war und sich schnell ein Konsens herauskristallisierte, insbesondere für den Preis im internationalen Wettbewerb, der an “My Favourite Cake” von Maryam Mogghadam und Behtash Sanaeeha verliehen wurde, einen schönen iranischen Film über Alter und Einsamkeit.

Die Geschichte einer 70-jährigen Frau, die seit 30 Jahren verwitwet ist, sich langweilt und sich auf die Suche nach einem Mann begibt, ist sowohl witzig als auch bewegend. Ihr Abend mit einem Taxifahrer, der geschieden und seit sehr langer Zeit allein ist, ist ein Wunder an Leichtigkeit und Zärtlichkeit. Das Thema ist universell, auch wenn die Zwänge der iranischen Gesellschaft spezifische Einschränkungen mit sich bringen und die Einsamkeit noch verstärken, wenn etwa die Kinder der Frau ins Ausland gegangen sind. Die beiden Schauspieler, denen wir den Preis in Abwesenheit der Regisseure, die nicht aus dem Iran ausreisen durften, überreichten, sind im wirklichen Leben genauso herzbewegend wie im Film.


Im Forum ergänzen sich die beiden Filme, die wir prämierten. Der eine handelt von der stalinistischen Vergangenheit und der andere vom aktuellen Krieg in der Ukraine. “Maria'Silence” von Davis Simanis ist ein schöner, in Schwarz-Weiß gedrehter Film mit einer Film-Noir-Atmosphäre, der eine Vergangenheit heraufbeschwört, die stalinistischen Säuberungen von 1937, die im heutigen Russland leider wieder aktuell sind. “Intercepted” ist ein Dokumentarfilm über den Krieg in der Ukraine, der auf einem ganz besonderen Kunstgriff beruht: Er stellt Bilder von verwüsteten ukrainischen Häusern und Dörfern einer Tonspur gegenüber, die aus Aufnahmen von Gesprächen zwischen russischen Soldaten und ihren Familien besteht, die vom ukrainischen Geheimdienst abgefangen wurden. Durch diese geniale Anordnung erhält der Zuschauer zahlreiche Informationen über die russische Propaganda, die von den Russen in den Dörfern praktizierten Folterungen, aber auch die Reaktionen der russischen Soldaten, die von Angst und Überdruss bis hin zur Freude am Foltern und Töten reichen. Ein starker Film, komponiert aus kunstlosen, fast rohen Materialien.

Die preisgekrönten Filme des Wettbewerbs

Was den Goldenen Bären betrifft, wiederholte die Jury in diesem Jahr die Überraschung, die sie im letzten Jahr mit der Prämierung eines Dokumentarfilms geschaffen hatte. «Dahomey» von Mati Diop handelt von der Rückgabe von 26 Kunstwerken aus dem ehemaligen Königreich Dahomey durch Frankreich an Benin. Der Film spielt auf zwei Ebenen: dem technische Aspekt des Transports und der Präsentation der Kunstwerke einerseits, der Reaktionen der Beniner auf das Ereignis andererseits. Hinzu kommt die originelle Idee, aus einer anthropo-zoomorphen Statue von König Ghezo eine Figur zu machen, die ihre Reise in ihrer Mutttersprache kommentiert, was dem Film einen Hauch von Poesie und Emotionen verleiht.

Von den anderen Filmen, die von der Jury ausgezeichnet wurden, ging der Große Preis an « A Traveler's Needs » von Hong Sangsoo, der nicht zu den besten des Regisseurs zählt; er selbst bemerkte bei der Entgegennahme des Preises, dass er nicht ganz verstehe, warum er ihn bekommen habe. Es kehren die langen, festen Einstellungen und in Variationen sich wiederholenden Szenen wieder, für die er bekannt ist, aber die Idee, eine von Isabelle Huppert gespielte Französin in Seoul Sprachunterricht anbieten zu lassen, um ein wenig Geld zu verdienen, will nicht recht überzeugen. Die Jury sorgte für eine weitere Überraschung, als sie Bruno Dumont den Preis der Jury für seinen Film «L'Empire» verlieh, ein Pastiche der «Star Wars»-Filme, versetzt in die französische Provinz. Eine leicht verrückte Posse, bei der man die Anspielungen auf Bruno Dumonts alte Filme schätzen wird (oder auch nicht).


Der Preis für das beste Drehbuch ging an «Sterben» von Mathias Glasner, eine ambitionierte, dreistündige Reflexion über den Tod in all seinen Formen, vom Alterstod bis zum Selbstmord. Die Hauptfigur, ein Dirigent in den Vierzigern, der freundlich, zugleich aber rational und gefühllos ist, muss sich in umfassender Form mit dem Tod auseinandersetzen: dem natürlichen Tod seiner alten Eltern, dem gewollten Tod seines suizidgefährdeten Freundes, aber auch dem langsamen Tod seiner Schwester, die ihre Einsamkeit in Alkohol und Sex ertränkt. Der Regisseur nimmt sich viel Zeit für die Gespräche zwischen den Protagonisten. Das mag den Zuschauer gelegentlich irritieren, verleiht dem Film aber eine große Kraft.

«A Different Man» von Aaron Schimberg, für den Sebastian Stan den Preis als bester Schauspieler erhielt, ist ein interessanter und komplexer Film über Identität und Behinderung, der ein wenig Science-Fiction mit einer guten Portion jüdischen New Yorker Humors vermischt. Ein unglücklicher Mann mit einem schrecklich deformierten Aussehen, das er für Auftritte in kleinen Werbefilmen nutzt, träumt von einem normalen Gesicht. Eine revolutionäre Behandlung macht ihn zu einem normalen, ja sogar schönen Menschen. Sein Glück ist jedoch nur von kurzer Dauer: er sieht sich mit einem Doppelgänger seines früheren "Selbst" konfrontiert, einem Mann mit einem monströsen Gesicht, dem alles gelingt. Die Handlung ist subtil, die Themen Identität und Glück werden mit Intelligenz und Humor behandelt.

Von der Jury übersehene Filme

Einige Filme hätten es mehr als verdient gehabt, in die Liste der Preisträger aufgenommen zu werden. «La Cocina» von Alonso Ruizpalacios ist ein flamboyanter mexikanischer Film, in dem der Melting-Pot New York durch die Küche eines Restaurants gespiegelt wird, in der alle Länder und Sprachen zusammenkommen. Zwar endet der Film im Chaos, aber trotz aller Spannungen herrscht eine große Brüderlichkeit zwischen den Frauen und Männern, die aus ihrem Land geflohen sind, um dem amerikanischen Traum nachzujagen.


"Shambhala” von Min Bahadur Bham spielt in den Bergen von Tibet. In einem Dorf, in dem Polyandrie praktiziert wird, ist eine junge Frau mit den drei Brüdern einer Familie verheiratet. Als ihr Haupt-Ehemann mit fast allen Männern des Dorfes auf eine mehrwöchige Reise geht, um ihre Erzeugnisse in der Stadt zu verkaufen, wird die Frau beschuldigt, von einem anderen Mann schwanger zu sein. Als ihr Mann davon erfährt und nicht ins Dorf zurückkehrt, bricht sie auf zu einem langen Fußmarsch, um sich mit ihm auseinanderzusetzen. Diese Fabel, die von althergebrachten Sitten, Aberglauben, buddhistischen Riten, aber auch von einer großen Nähe zur Natur geprägt ist, ist verstörend, aber schön.

Weitere Filme im Forum

Neben den beiden von der Ökumenischen Jury ausgezeichneten Filmen gab es im Forum noch weitere herausragende Filme. “Shahid” von Naghes Kalhor ist ein kleiner, sehr einfallsreicher Film über iranische Einwanderer in Deutschland. Anhand der Geschichte einer jungen Frau, die einen Teil ihres Namens ("Shahid") ablegen möchte, weil er auf eine Vorstellung von einem religiösen Märtyrer verweist, die sie ablehnt, spricht dieser vielschichtige Film mit Leichtigkeit über ein ernstes Thema. “In the Belly of the Tiger” von Siddhartha Jatla ist ein bewegender und poetischer Film über das Leben in kleinen Dörfern Indiens, wo sehr arme und oft verschuldete Familien gezwungen sind, in der örtlichen Fabrik, in diesem Fall einer Ziegelei, unter an Sklaverei grenzenden Bedingungen zu arbeiten. Die einzige Möglichkeit, die eigene Familie aus dem Elend zu retten, besteht darin, von einem Tiger gefressen zu werden und von der Regierung eine Abfindung zu erhalten.


Es ist ein sozialkritischer Film, aber einer, in dem der Regisseur das Elend bewusst abgemildert hat, indem er seine Figuren, vor allem die Kinder, in bunte Kleider gehüllt und Theaterszenen und Träume in die Erzählung eingeflochten hat. Es steckt viel Brüderlichkeit, Zärtlichkeit und Liebe in diesem Film, der uns oft den Tränen nahe bringt, aber auch in Poesie getaucht ist. "Was hast du gestern geträumt, Parajanov?" von Faraz Fesharaki ist ein Dokumentarfilm eines jungen Iraners im deutschen Exil, der seine Beziehungen zu seinen Freunden in Deutschland und seinen Eltern im Iran filmt. Am interessantesten ist der Videoaustausch mit seinen Eltern: Sein Vater ist ein Intellektueller, der das Regime nicht gerade unterstützt, und seine Mutter war zwei Jahre lang im Gefängnis. Dieser mit sehr begrenzten Mitteln gedrehte Film ist ein wenig durchwachsen, aber trotzdem reizvoll.

Auch wenn einige Filme für ein Festival wie die Berlinale ein wenig schwach erschienen, war die Auswahl reichhaltig und spannend und die Atmosphäre in den Kinosälen besonders herzlich.