Einsame Menschen sterben, Beziehungsfähige leben

Bilanz des 62. Filmfestivals Locarno 2009 von Charles Martig, Filmbeauftragter Katholischer Mediendienst

"Platons Akademie" ist ein Quartier in Athen und auch der Titel des diesjährigen Preisträgers der Ökumenischen Jury. Am 62. Filmfestival Locarno hat Filippos Tsitos mit "Akadimia Platonos" zudem den Leoparden für den besten Hauptdarsteller (Antonis Kafetzopoulos) ergattert. Im durchschnittlichen Wettbewerbsprogramm ragten die berührende Charakterstudie "Nothing Personal", der theologisch bedeutsame Film "La donation" sowie zwei sozial engagierten Filme aus Japan und Südafrika heraus

In "Akadimia Platonos" ist es der schlaflose Stavros, der mit der Pflege seiner Mutter überfordert ist. Als Tabakladenbesitzer, Rockmusik-Fan und Fremdenhasser lebt er ein ganz normales Leben. Nur fehlt ihm der Lebensfunke. Als sein vermeintlicher albanischer Bruder auftaucht und die betagte Mutter wegen der Rückkehr ihres verlorenen Sohnes überaus beglückt ist, bricht für Stavros eine Welt zusammen. Seine Identität als Hellene ist nachhaltig in Frage gestellt. Die Jury begründet den Preis so: "Mit seiner wohl durchdachten Inszenierung und gut überlegten Kameraführung ist der Film eine detaillierte Beobachtung einfacher Menschen in ihrem alltäglichen Leben in einem Viertel von Athen. In einem manchmal bittersüssen, manchmal ironischen Ton kritisiert der Film naiven Patriotismus und Xenophobie und plädiert stattdessen für das Aufgeben von Vorurteilen, gute Verständigung zwischen Kulturen und die Akzeptanz von Menschen, auch wenn sie anders sind."

Lobende Erwähnung an "Nothing Personal"

Zudem hat die Ökumenische Jury eine lobende Erwähnung an den Film "Nothing Personal" vergeben. Urszula Antoniak, die niederländische Regisseurin polnischer Abstammung, hat im Internationalen Wettbewerb wohl den berührendsten Film präsentiert. Mit ihrer Hauptfigur Anne ist sie in den irischen Landschaften auf der Suche nach einem Ort, an dem sie ohne Bindung einsam leben kann. Und doch führt diese Suche wiederum zum Anfang einer neuen Beziehung, mit Respekt für die Freiheit des Gegenübers. "Dadurch vermittelt die Regisseurin eine starke Hoffnungsbotschaft für Menschen, die in ihrem Leben verletzt wurden und neue Beziehungen aufbauen müssen, mit Respekt für die Freiheit und Unabhängigkeit der anderen Person", begründete die Jury ihren Entscheid. Lotte Verbeek interpretiert die verletzliche und gleichzeitig abweisende Seite der Figur derart bravourös, dass sie dafür mit einem silbernen Leoparden ausgezeichnet wurde.

"Geben" als Sinn des Lebens

Ein bekanntes Gesicht in Locarno ist Bernard Émond aus Kanada, der mit "La donation" seine Trilogie über die drei theologalen Tugenden "Glaube, Hoffnung und Liebe" abschliesst. Im dritten Teil geht es nun um die Nächstenliebe. Die Geschichte greift einen Erzählstrang aus "La Neuvaine" auf; dem ersten Teil der Trilogie und Preisträger der Ökumenischen Jury von Locarno aus dem Jahr 2005. Die Ärztin Jeanne hat am Ende von "La Neuvaine" ihre Depression überwunden und den Glauben ans Leben wiedergefunden. Wie der Regisseur jedoch an der Pressekonferenz zu "La donation" festhält, ist diese Heilung der Figur noch nicht vollständig. Er schickt Jeanne nun in das kanadische Hinterland, wo sie die Stellvertretung für einen Landarzt übernimmt. Sie ist sich noch nicht sicher, ob sie in dieser Gegend praktizieren möchte, doch die Nähe zu den Leuten, ihren Lebensgeschichten, Krankheiten und ihrem Sterben bringen die Ärztin immer näher zur Erfahrung der "Hingabe". Bezeichnenderweise ist es auch hier der plötzliche Tod einer Jugendlichen, der sie zum Engagement im Sinne der Nächstenliebe drängt. Jeanne lernt, dass ihre Befähigung als Ärztin auch Nähe zu den Menschen und ihren Schicksalen verlangt.

Comeback von Masahiro Kobayashi

Mit der einfühlsamen Studie "Wakaranai" meldete sich Masahiro Kobayashi in Locarno zurück, nachdem er 2007 mit dem Film "Rebirth" den Goldenen Leoparden gewann. Diesmal wagt er sich an die prekäre Lebenssituation des 16-jährigen Schülers Ryo, der in den Sommerferien arbeitet, um seine Familie über Wasser zu halten. Doch die Mutter stirbt im Spital und der Vater verschwindet. Geduldig folgt der Regisseur den alltäglichen Verrichtungen des Jugendlichen und zeigt seine einsame Verzweiflung auf berührende Art. Die Einsamkeit von Ryo ist erdrückend und doch macht er sich auf, um in Tokyo nach seinem Vater zu suchen.

Verzweifeln oder doch Hoffnung finden?

Überraschend stark und überzeugend war der südafrikanische Wettbewerbsbeitrag, der den Namen der Hauptfigur im Titel trägt: "Shirley Adams". Die Krankenpflegerin hat sich aus ihrem Beruf zurückgezogen, um ihren Sohn zu betreuen. Dieser ist seit einer Schussverletzung am Hals querschnittgelähmt. Dieses tragische Ereignis hat die Familie zerschlagen: Der Vater hat das Haus verlassen, dem Sohn schwindet der Lebensmut, die Mutter kämpft jeden Tag um seinen Lebenswillen und die Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse. Der Film ist eine Sozialstudie, die nicht wertet sondern geduldig die Ereignisse verfolgt. Von Anfang an sind viele Fragen im Raum, die nur schrittweise beantwortet werden. Mit der Schulterkamera verfolgt Regisseur Oliver Hermanus die Protagonistin im Kampf gegen die Vereinsamung ihres Sohnes Donovan. Als Zuschauer wissen wir nicht mehr als die Hauptfigur und kämpfen mit ihr ums Überleben. Es handelt sich um das eindrückliche Porträt einer engagierten Mutter.

 

>Radiobeitrag des Schweizer Radios DRS