Einer trage des anderen Last - Das Festival des osteuropäischen Films in Cottbus 2021

107 Mothers (Péter Kerekes)

Lubina für den besten Wettbewerbsfilm: "107 Mothers" (Cenzorka) von Péter Kerekes


Seine 30. Jubiläumsausgabe konnte das Festival des osteuropäischen Films in Cottbus 2020 nur online stattfinden lassen. Doch die diesjährige Edition präsentierte den rund 10.000 Besuchern in sieben Spielstätten wieder ein breites Angebot unter den nötigen Rahmenbedingungen. Im Weltspiegel, dem am 4. Oktober 1911 eröffneten, ältesten „Kinozweckraum“ Deutschlands, kamen die Filme und Gespräche mit den Machern besonders gut zur Geltung.

Insgesamt waren 170 Filme aus über 40 (Ko-)Produktionsländern in allen Sektionen zu sehen – entstanden oft unter Fernsehbeteiligung und/oder des Europäischen Filmförderungsfonds Eurimages als Unterstützer unabhängiger, länderübergreifender Projekte. Der von Sponsoren, der öffentlichen Hand und der Stadt Cottbus akquirierte Etat betrug mehr als 500.000 Euro.

Preisträger

Der Preis der Ökumenischen Jury ging an „Brighton 4th“ (Georgien, Russland, Bulgarien, Monaco, USA 2021) von Levan Koguashvili. Ein Ex-Ringerchampion reist von Tiflis nach New York, um seinem Sohn im Kampf gegen die Mafia zu helfen, da er wegen Spielschulden weder das Medizinstudium noch die Hochzeit organisieren kann. Das Motiv des verlorenen Sohns korreliert mit dem Verhältnis des Patriarchen zu seiner Frau, der er sogar seinen Hund vorzieht.

Das bereits beim diesjährigen Tribeca-Festival dreifach ausgezeichnete Familiendrama setzt auf eine universale Reflexion über Würde und Mitmenschlichkeit, über Heimatlosigkeit und Identitätssuche von Auswanderern. Stimmige schauspielerische Leistungen, eine unprätentiöse Kameraarbeit und die subtile Studie homogener Männergesellschaften verleihen dem Film seinen Reiz. Der aus dem georgischen Kino bekannte Humor lockert die strukturelle Gewalt immer wieder auf. Als Vorbild diente unverkennbar der amerikanische Gangsterthriller „Little Odessa“ (1994) von James Gray. „Brighton 4th“ erhielt auch den Preis der internationalen Filmkritik (Fipresci). Hauptdarsteller Levan Tediashvili wurde für eine herausragende darstellerische Einzelleistung gewürdigt.

Leise Kritik an einem zu „männerlastigen“ Programm in den Vorjahren konterte Festivalleiter Bernd Buder 2021 mit einer größeren Frauenquote. Der Wettbewerb bot da eine erstaunliche inhaltliche Vielfalt und Qualität. Der Hauptpreis für den besten Film ging an das slowakisch-ukrainisch-tschechische Frauengefängnisdrama „107 Mothers“ (Cenzorka, 2021) von Péter Kerekes. Eine wegen Mordes an ihrem Mann inhaftierte junge Mutter kämpft um das Sorgerecht ihres dort geborenen Sohns und findet in einer unverheirateten Wärterin Verständnis und Hilfe. Trotz seiner etwas geschönten Empathie und verhaltenen Systemkritik nimmt der dokumentarisch angelegte Film für sich ein.


Die polnische Produktion „Leave No Traces“ (Żeby nie było śladów, 2021) von Jan P. Matuszyński, kürzlich bereits auf den Festivals in Venedig, Danzig und Haifa gezeigt, erhielt den Preis für die beste Regie. Im vom Kriegsrecht gezeichneten Polen des Jahres 1983 machen Frauen den Unterschied in der Aufklärung der Umstände eines durch Polizeigewalt gestorbenen Abiturienten. Ausführlich aufbereitet wird der authentische Fall durch Bezugnahmen auf den Solidarność-Hintergrund, die Rolle von politischen Karrieristen und einen gesteuerten Justizapparat. Mit 160 Minuten Länge schießt der Film allerdings übers Ziel hinaus. 

Genderfragen

Während „A Blue Flower“ (Plavi cvijet, Kroatien 2021) in der Darstellung der Sprachlosigkeit dreier Frauengenerationen nicht das Niveau eines sozialengagierten Fernsehspiels übersteigt, überzeugt „Looking For Venera“ (Në kërkim të Venerës, Kosovo, Nordmazedonien 2021), das Regiedebüt von Norika Sefa, trotz konventioneller Machart durch seine emotional ansprechende Aufbruchsstimmung in einer von traditionellen Männerritualen bestimmten Balkanprovinz. Der Traum zweier Teenager von Freiheit und Selbstbestimmung scheitert zwar oft an Kompromissen, beinhaltet aber schöne kleine Beobachtungen, wie sich Frauen unter diesen Verhältnissen neue Freiräume erschließen.

Der bereits zu Recht in Cannes prämierte Selbstfindungsprozess einer finnischen Wissenschaftlerin im düster-deprimierenden „Abteil Nr. 6“ (Hytti Nro 6, Finnland, Estland, Deutschland, Russland 2021) von Juho Kuosmanen fängt geschlechterspezifisches Verhalten und Vorurteile aufs Sympathischste ein. Ähnliche Probleme in der Bewältigung ambivalenter Entwicklungsphasen diskutiert Cecília Felméris ungarisch-rumänischer Film „Spiral“ (Spirál, 2020). Die Innen- und Außenwelten eines zwischen Flucht in eine trügerische Naturidylle und Unfähigkeit zu Beziehungen pendelnden Mannes scheinen sich am Ende positiv aufzulösen.


Deutlich provozierender tritt „In Limbo“ (Meshsezione, 2021) von Alexander Hant auf. Seine russische Bonnie and Clyde-Variation inklusive anklagendem Pathos der jungen Generation schreckt auch vor Selbstmord nicht zurück, um den im Alltag gefangenen Eltern eine moralische Lektion zu erteilen. Doch das System schlägt (noch einmal) zurück. - Einen Blick zurück in die sowjetische Geschichte Anfang der 1940er Jahre versucht „Sughra’s Sons“ (Sughra ve ogullari, Aserbaidschan, Frankreich, Deutschland 2021) von Ilgar Najaf. Der Regisseur thematisiert das Aufbegehren der islamischen aserbaidschanischen Republik mit der Weigerung, am Großen Vaterländischen Krieg gegen Deutschland teilzunehmen, um die eigene Souveränität und Identität zu bewahren. Das Leid der Frauen, die Männer und Söhne an die Partisanen und skrupellose Sowjetfunktionäre verlieren, beschwört der Schwarzweißfilm in klaren Bildern.


In „Orchestra“ (Orkester, Slowenien 2021) von Matevž Luzar, einer bittersüßen Komödie in Schwarzweiß, beschert ein Blasorchester aus der slowenischen Provinz seiner österreichischen Partnergemeinde einen unvergesslichen Auftritt. Der Schwarzweißfilm nimmt die trinkfesten Musiker und ihre reservierten Gastgeber aus weiblicher, männlicher und jugendlicher Perspektive in einer ganzheitlichen Milieustudie ernst.
Daneben bot das Festival in Cottbus auch interessante Farbtupfer: kleine Schwerpunkte zum aktuellen türkischen und polnischen Kino sowie die Erinnerung an Toni Bruk, Leiter der DEFA-Produktionsgruppe Sorbischer Film. Oder das Schlaglicht auf das slowakische Kino. Auffällig: die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der NS-Zeit in der Filmauswahl. So erzählt „Der Auschwitz Report“ (Správa, Slowakei, Tschechische Republik, Deutschland 2021) von Peter Bebjak die authentische Geschichte von der Flucht zweier slowakischer Gefangener aus dem Vernichtungslager Auschwitz. Peter Solans Kriegsfilmklassiker „Der Boxer und der Tod“ (Boxer a smrť, ČSSR 1962) mit Manfred Krug etabliert den Kampf zwischen einem deutschen KZ-Kommandanten und einem slowakischen Gefangenen als zeitkritisch-historische Folie. Und die existentialistische Parabel „The Bell Toll For The Barefooted“ (Zvony pre bosých, ČSSR 1965) zeigt den Zwiespalt von Partisanen, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs über Leben und Tod eines Volkssturmjungen entscheiden müssen.