Die Welt auf Warschaus Inseln

Ein Bericht über das 38. Internationale Filmfestival Warschau


Wie schaffen die das? Das Internationale Filmfestival Warschau ist mit sieben Wettbewerben am Start: Neben dem internationalen Wettbewerb gibt es „Crème de la Crème“, „1-2 Competition“, „Free Spirit Competition“ sowie einen Dokumentar- und einen Kurzfilmwettbewerb. Daneben noch weitere Abteilungen von Classic bis Discoveries. Und in diesem Jahr war aus gegebenem Anlass zusätzlich das internationale Filmfestival aus Odessa in Warschau zu Gast. Entsprechend viele Jurys sind dabei, Gäste und interessierte Zuschauer:innen, über 160 Filme. Zugleich bleibt alles schon aufgrund der räumlichen Nähe – zwei Kinos in Fußentfernung voneinander – überschaubar und geradezu familiär, inklusive der Partys und informellen Treffpunkte. Festivaldirektor Stefan Laudyn teilte in einer kleinen Broschüre seine persönlichen Empfehlungen, welche Orte sich lohnen. Dabei ist Warschau eine weitläufige, lebendige Großstadt, wenngleich eher ein Archipel kleinerer, unterschiedlich attraktiver Inseln, wie Stefan Laudyn bemerkt. Dass man auf diesen Inseln Filmgrößen wie Volker Schlöndorff und Agnieszka Holland begegnen kann, zeugt von der Attraktivität der Stadt und ihres Festivals.

Die ökumenische Jury – wunderbar unterstützt durch eine gute Organisation vor Ort – konzentriert sich bei ihrer Auswahl auf den internationalen Wettbewerb. Weil der chinesische Beitrag HUANG YUAN / WHERE NOTHING GROWS (Regie: Peter Zhiguo Zuo) aufgrund fehlender chinesischer Genehmigung kurzfristig nicht gezeigt werden durfte, waren es noch 14 Filme, die hier miteinander konkurrierten, wie so oft von unterschiedlichem Niveau.


Der stilsicherste und vom professionellen Anspruch her wohl konsequenteste Film war für mich KYSSET / THE KISS (Dänemark 2022), Bille Augusts kongeniale Verfilmung des Romans „Ungeduld des Herzens“ von Stefan Zweig. Spannend und unterhaltsam wird die Geschichte des Kavallerieoffiziers Anton erzählt, der herausfinden muss, welcher Natur seine Gefühle für Baronesse Edith sind, die seit einem Unfall auf den Rollstuhl angewiesen ist. Das Ausloten von Nähe und Distanz, sozialen Bedingungen und Erwartungen ist bei aller Dramatik wunderbar leicht in Szene gesetzt. Zwar versetzt Bille August die Handlung aus einer k.u.k.-Provinzgarnison nach Dänemark, bleibt aber in vielen Details sehr nah an der Romanvorlage. Und obwohl die Zeit unmittelbar vor und zu Beginn des ersten Weltkriegs sich so sehr von der unsrigen unterscheidet, ist das, worum es dort geht, am Ende zeitlos.

Umso größer ist die Fallhöhe zu einem Film wie APAG / FEAST (Hongkong 2022), in dem der einst in Cannes gefeierte Brillante Mendoza wieder nicht an frühere Erfolge anknüpfen kann. Zu kraftlos und wenig nachvollziehbar bleibt seine Geschichte einer nur scheinbar glückenden Versöhnung. Nach einem tödlichen Autounfall wollen sich die Verursacher zunächst ihrer Verantwortung entziehen, unterstützen aber letztlich die Witwe und ihre Familie. Sie „darf“ als Bedienstete in deren Haushalt arbeiten und sorgt am Ende des Films für das titelgebende Festmahl, an dem sie selbst aber nicht teilnehmen kann – zu groß sind offensichtlich die sozialen Hierarchien. Über die Speisevorlieben auf den Philippinen erfährt man eine ganze Menge, nicht aber über die gesellschaftlichen Hintergründe.


Im Film ADEMOKA / ADEMOKA’S EDUCATION (Kasachstan/Frankreich 2022) versucht der kasachische Regisseur Adilkhan Yerzhanov die konkreten sozialen Bedingungen einer jungen illegalen Migrantin symbolisch zu abstrahieren und gerade dadurch verständlich zu machen. In einer skurrilen, manchmal an Fellini oder Buñuel erinnernden Inszenierung erleben wir die Suche dieser jungen Frau nach angemessener Bildung. Alle Szenen, von der Passkontrolle bis zur Schulprüfung, finden auf der Straße, dem freien Feld oder im Stadion statt. Erst ganz am Ende, wenn sie sich tatsächlich eine Zugangsberechtigung zur Universität verschafft hat, betritt Ademoka ein Gebäude und damit ein Leben jenseits des ihr zugeschriebenen Raums. Der Film gewann den NETPAC Award.

Auch andere Filme handeln davon, wie Menschen sich den ihnen zugemuteten Begrenzungen stellen und sie zu überwinden versuchen. Den Regiepreis der internationalen Jury bekam der lettische Regisseur Viesturs Kairišs für sein autobiographisch grundiertes Reenactment der Barrikadentage in Riga im Januar 1991. JANVARIS / JANUARY (Lettland/Litauen/Polen 2022) lässt den 19jährigen Jazis zusammen mit anderen angehenden Filmemachern den Widerstand der lettischen Bevölkerung gegen eine sowjetische Machtübernahme dokumentieren. Found footage, nachgestellte Super 8-Aufnahmen und andere Filmbilder vermischen sich zu einem beeindruckenden Zeitdokument. Vor allem aber ist es die Geschichte eines Coming of Age unter besonderen historischen Umständen, die eine ganze Generation nicht nur in Lettland geprägt haben.


Ebenso nah dran an historischen Ereignissen – wenn auch auf völlig andere Weise – ist der Gewinner des Großen Preises von Warschau, PRAZNIK RADA / MAY LABOR DAY (Bosnien-Herzegowina/Kroatien/Nordmazedonien/Serbien/Montenegro u.a. 2022) des bosnischen Regisseurs Pjer Žalica. Dort sind es tatsächlich ausschließlich die gedachten, teils geleugneten und teils heftig diskutierten Erinnerungen an die unerträglich schmerzhafte Vergangenheit, die nicht vergehen will. Der Bosnier Armin kommt nach zehnjähriger Abwesenheit in Deutschland nach Hause, um seinem Vater seine Frau vorzustellen. Der ist jedoch gerade wegen einer Tat aus Kriegszeiten verhaftet worden. Eigentlich ist es eher ein Kammerspiel als ein Film: Das Dorf sitzt und spricht, streitet sich und schweigt über das, was Nachbarn zu Feinden machte und noch immer schmerzhaft nachwirkt. Schuldverstrickungen, die sich nicht einfach auflösen lassen. Auch wenn die erinnerten Ereignisse und deren Hintergründe sich für Uneingeweihte nicht immer erschließen, wirkt doch die tiefe Traurigkeit, die mit ihnen verbunden ist.

Ausgesprochen heiter und erfrischend kommt BETLÉMSKÉ SVĚTLO / BETHLEHEM LIGHT (Tschechien/UK 2022) daher, in dem der tschechische Regisseur Jan Svěrák (Oscar und Golden Globe für KOLYA 1997) seinen nicht weniger bekannten Vater Zdeněk Svěrák (der zugleich das Drehbuch schrieb) auftreten lässt. Er spielt einen alternden Schriftsteller, dessen Protagonisten sich zunehmend in seinem Leben breitmachen und um Änderungen an ihren erdachten bzw. noch zu entwickelnden Lebensläufen feilschen. Es ist eine Verfilmung dreier Kurzgeschichten, die sich aber gut zusammenfügen. So gibt es wirklich wunderbare, grandiose Szenen und Ideen, die bei aller Leichtigkeit existentielle Frage anrühren und dabei auch vor dem Tod nicht haltmachen, im Gegenteil: Wenn der Schriftsteller in seinen eigenen Sarg steigt und es sich darin bequem macht, ist das ein unvergesslicher und urkomischer Moment.


Der Preis der ökumenischen Jury ging an einen Film, dem die Kombination von Leichtigkeit und Tiefe, Spaß und Ernst ebenfalls bravourös gelingt. Regisseurin Anna Maliszewska, in Polen vor allem als Regisseurin von Musikvideos bekannt, entwickelt in ihrem ersten langen Spielfilm eine Idee aus einem eigenen Videoclip weiter. TATA / DAD (Polen/Ukraine 2022) erzählt von einem Vater, der sich plötzlich nicht nur mit zwei jungen Mädchen, sondern auch einer illegal in Polen arbeitenden und nun dort verstorbenen Ukrainerin wiederfindet. Davon ausgehend entwickelt sich ein Road Movie, in dessen Verlauf ebenso für Gespräche über Leben und Tod Platz ist wie für ukrainischen Rap, für bittere Tränen wie herzhaftes Lachen. Während der Vater sich widerwillig, aber entschlossen seiner Verantwortung stellt, entwickeln sich auch die anderen Figuren mehrdimensional. Vielleicht sind es am Ende etwas zu viele Dinge auf einmal, die in dieser komplexen Geschichte untergebracht sind, aber die bei aller Zuspitzung glaubwürdigen Figuren und ihre wunderbaren Schauspieler:innen machen das wieder wett.


Und noch ein weiterer Film schafft es, die Frage nach Verantwortung und angemessenem Handeln sehr eindrücklich zu stellen, er wurde mit einem Spezialpreis der internationalen Jury ausgezeichnet. In STRZĘPY / SHREDS (Polen 2022) von Beata Dzianowicz geht es darum, wie ein Mann seinen zunehmend dementen und damit auch aggressiv werdenden Vater trotz des Widerspruchs von Frau und Tochter zu sich holt, genau in dem Moment, als dieser ihn nicht mehr erkennt. Schauspielerisch eindrucksvoll wird der Verfallsprozess nachvollziehbar dargestellt. Allerdings reduziert der Film das Phänomen Alzheimer immer mehr auf eine Bedrohung, die mit aller Macht aus der Welt geschafft werden soll und endet in einem doppelten, nicht wirklich sinnvollen Opfer, das zum Widerspruch reizt.

Ein Festival in Kriegszeiten. Dass das internationale Filmfest Odessa in Warschau aufgenommen wurde, habe ich bereits erwähnt. Leider ist es nicht zu schaffen, auch diese Filme alle wahrzunehmen. Einen will ich stellvertretend nennen. Der Dokumentarfilm A RISING FURY (Ukraine/Norwegen/USA 2022) von Lesya Kalynska und Ruslan Batytskyi begleitet über einen Zeitraum von acht Jahren, von den Maidan-Protesten 2013 bis zum Beginn des aktuellen Kriegs, einen ukrainischen Kämpfer aus dem Osten des Landes und dessen Freundin bzw. spätere Frau. Im Rückblick wird deutlich, wie lange die russischen Kriegsvorbereitungen schon zurückreichen und auf welche Weise sie eingefädelt worden sind. Es ist zu hoffen, dass der Film auf der Berlinale einem deutschen Publikum zugänglich gemacht wird.