Die Macht der Erzählung

Bericht vom Festival International des films de Fribourg 2021
La nuit des rois (Philippe Lacôte)

Grand Prix Fribourg 2021: La Nuit des Rois (Philippe Lacôte)


Am diesjährigen Festival International des Films de Fribourg (FIFF) präsentierte die Sektion Internationaler Wettbewerb langer Filme unter der künstlerischen Leitung Thierry Jobins mit seinem Team eine reichhaltige und breitgefächerte Auswahl. Die zwölf Filme bearbeiteten mit sehr unterschiedlichen stilistischen Zugängen und Erzählstrategien ganz verschiedene Sujets. Diese Diversität widerspiegelt sich auch in den Urteilen der für diese Kategorie zuständigen Jurys, die ihre Preise an ganz unterschiedliche Filme vergeben haben. Nichtdestotrotz lassen sich eindeutig wiederkehrende Themen identifizieren.

Mehrere Filme erzählen Geschichten von kleinkriminellen, entrechteten, ausgebeuteten und ausgeschlossenen Menschen. So handelt es sich beim Spielfilm La Nuit de Rois von Philippe Lacôte, Gewinner des Hauptpreises der Internationalen Jury, um einen «Gefängnisfilm» der ganz besonderen Art. Er führt uns in die Welt der «Maca», ein berüchtigtes ivorisches Gefängnis, das von seinen Insassen regiert wird. Schon der Titel des Films lässt erahnen, dass es in diesem Film auch um Machtspiele und Intrigen, um den Kampf um Autorität und Souveränität geht: La Nuit des Rois ist nämlich der französische Titel von Shakespeares «Twelfth Night». Lacôtes Inszenierung verlegt den Machtkampf – eines der Markenzeichen von Shakespeares Dramen – ins Gefängnis, einen Ort, an dem Hierarchien und Machtmechanismen überdeutlich werden. In diesem Gefängnis gibt es ein kompliziertes System von ungeschriebenen Gesetzen, Sanktionen und Ritualen, die den Machterhalt regulieren und die jedem Gefangenen einen bestimmten Platz und eine bestimmte Funktion in der Gefängnisgemeinschaft zuweisen.

Eine dieser Regeln besagt, dass ein geschwächter, regierungsunfähiger Souverän selbst die Macht ablegen und sich das Leben nehmen muss. Dies erinnert an die vom Anthropologen und Mitbegründer der Religionsethnologie James Frazer (The Golden Bough) beschriebene Figur des Gottkönigs, der rituell getötet werden muss, sobald seine göttliche Wirksamkeit aus Alters- oder Krankheitsgründen nachzulassen droht. Das Thema der (Ohn-)Macht des Souveräns wird hier eng verknüpft mit der Macht des Erzählens. Die Regeln der Maca besagen nämlich, dass der Souverän einen Geschichtenerzähler erwählen kann, der in den Nächten, in denen der Mond sich rot färbt, alle Insassen mit einer Geschichte unterhalten muss. Wenn die Geschichte missfällt oder vor Sonnenaufgang endet, wird der Erzähler getötet. Auf diese Regel beruft sich Barbe Noire, der todeskranke Souverän der Maca, als er den Taschendieb Zama zum Geschichtenerzähler ernennt. Er will Zeit gewinnen und die eigene tödliche Absetzung hinauszögern. Regisseur Lacôte orientiert sich eindeutig an Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht und verknüpft dieses Motiv gleichzeitig mit der westafrikanischen Figur des Griots, eines berufsmässigen Sängers, Dichters und Instrumentalisten, der in einer bestimmten Form des Gesangs epische Texte als Preissänger, Geschichtenerzähler, Lehrer oder Unterhalter vorträgt.


Als Zama erfährt, dass er getötet wird, sobald seine Geschichte zu Ende ist, fängt er an, den Plot seiner Erzählung mit Flashbacks auszuweiten. Was als eine realistische Geschichte über einen Kleinkriminellen beginnt, wird Schritt für Schritt immer mehr zu einem Märchen. Zamas Erzählung bietet dem Regisseur die Möglichkeit, aus den Wänden des Gefängnisses zu entkommen und die weiten Landschaften Westafrikas auf die Leinwand zu bringen. Hier verschmelzen reale Ereignisse mit Mythen und Legenden. Einzigartig in Lacôtes Inszenierung ist das hin und her zwischen einem primären Raum der Erzählung und sekundären erzählten Räumen. Denn das von Zama Erzählte wird nicht nur anhand von Flashbacks visualisiert, sondern auch von den Insassen performativ-körperlich in Szene gesetzt. Stimme und Körper werden für Zama und die anderen Gefangen zu Mitteln der geistigen (freilich nur temporären) Flucht und der Befreiung aus ihren prekären Verhältnissen.

Auch im kasachischen Film Yellow Cat (Zheltova koshka) von Regisseur Adilkhan Yershanow steht die Macht der Erzählung, der Fiktionalität, ganz klar im Zentrum. In diesem tragikomischen, teilweise absurden Werk, dessen Figuren manchmal an diejenigen aus Aki Kaurismäkis frühen Filmen erinnern, träumt der ehemalige Kriminelle Kermek davon, mitten in den Bergen der kasachischen Steppe ein Kino zu errichten. Der Film ist zudem eindeutig eine Hommage an, wenn nicht sogar ein Remake von Tony Scotts True Romance: Auch in Yellow Cat verliebt sich der filmbegeisterte Protagonist in eine Prostituierte, kommt in den Besitz einer beträchtlichen Summe Geld (in True Romance ist es Kokain), die dem örtlichen Gangster-Boss gehört, und flüchtet zusammen mit seiner Geliebten. Die Verweise auf die Filmgeschichte sind in Yellow Cat vielfältig – so stellen die Charaktere etwa Jean-Paul Melvilles Le samouraï, Martin Scorseses Casino oder Stanley Donnen’s Singin’ in the Rain nach.


Für Kermek und seine geliebte Eva stellt die kinematographische Fiktionalität nicht nur einen Zufluchtsort dar, an dem die Strapazen und die Einöde des Lebens in der kasachischen Steppe erträglich werden. Vielmehr wird die Fiktionalität zum Mittel des Widerstandes gegen die Unmenschlichkeit und die gegenseitige Ausbeutung in einer von Korruption und Brutalität beherrschten Gesellschaft. Auch wenn es kein Happy End wie in True Romance gibt, scheint der Protagonist dennoch zu gewinnen: er verweigert sich der Entmenschlichung und erinnert uns einmal mehr daran, dass ohne Fiktionalität, ohne die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und von ihnen affiziert zu sein, der Mensch seine Menschlichkeit einbüsst.

Ein weiteres wiederkehrendes Thema ist der Kampf um und für die Kinder. In der argentinischen schwarzen Komödie La noche mágica (Bad Christmas) von Gastón Portal, ausgezeichnet mit dem Sonderpreis der Internationalen Jury, wird ein Dieb während eines Einbruchs zum unerwarteten Freund des im Haus wohnenden Mädchens. Dabei bringt er ein dunkles, schreckliches Familiengeheimnis ans Licht. Fast wie eine göttliche Instanz bricht der Dieb in der Weihnachtsnacht in einer Villa ein, um Gerechtigkeit walten zu lassen. Auch um Familie, beziehungsweise um die Frage nach der Definition «wahrer» Mutterschaft, geht es im japanischen Film True Mothers der Regisseurin Naomi Kawase. Der Film, ausgezeichnet mit dem Preis der Ökumenischen Jury, erzählt auf sehr sensible Art die Geschichte von Adoptiveltern, die eines Tages von der leiblichen Mutter ihres Kindes angerufen werden. Sie verlangt Geld. Was zuerst wie eine Erpressung wirkt, entpuppt sich bald als ein verzweifelter Akt einer jungen Frau, die von ihren Eltern gedrängt wurde, ihr Kind insgeheim zu gebären und zur Adoption freizugeben. Sie aber möchte nun ihren Sohn sehen, kennenlernen und lieben. Visuell und inszenatorisch bemerkenswert an diesem Film ist vor allem die Sanftheit des natürlichen Lichtes, das gleichsam Charaktere und Landschaften streift. Dieser Film bringt es zustande, ohne je pathetisch zu werden, eine starke emotionale Bindung zwischen den Zuschauer*innen und den gleichsam «wahren» Müttern des Knaben zu schaffen.


Obwohl Kinder in Jasmila Žbanićs Quo Vadis, Aida? nur am Ende prominent vorkommen, darf ihre zentrale Rolle nicht übersehen werden, wenn man die ethische und politische Kraft des Filmes verstehen möchte. Žbanićs eindringliches Werk hat den Preis der Jugendjury COMUNDO und den Publikumspreis gewonnen. Die für die Vereinten Nationen als Übersetzerin arbeitende Aida, gespielt von einer herausragenden Jasna Đuričić, begleitet uns durch die schrecklichen Ereignisse und Fehlentscheidungen, die im Massaker von Srebrenica mündeten und mehr als 8000 Bosniaken das Leben kosteten. Was diesen Film von vielen anderen Kriegsfilmen unterscheidet, ist der Blick einer Frau auf die Spirale der Ereignisse, die unter Mitschuld der Vereinten Nationen zum grausamsten Massaker und Völkermord in der jüngsten Geschichte Europas führten. Zugleich handelt es sich auch um einen Gedenkfilm, der uns nicht nur auffordert, nicht zu vergessen, sondern uns darüber hinaus dazu anleitet, über den Umgang mit schrecklichen Erinnerungen zu reflektieren.

Quo Vadis, Aida? Wohin gehst du, Aida? Warum kehrt sie mehrere Jahre nach den Ereignissen vom Juli 1995 nach Srebrenica zurück? Wie kann sie es ertragen, mit den Mördern der eigenen Familie, der Freunde und Nachbarn am selben Ort zu leben? In der letzten Szene des Filmes sehen wir Aida, die wie vor dem Krieg als Grundschullehrerin arbeitet und während einer Schulaufführung auf die Gesichter der Mörder blickt –  die Menschen, die zu den grausamsten und unmenschlichsten Taten fähig waren und die nun glücklich lächelnd und liebevoll ihren Kindern zuschauen. Hier die Kinder, ewige Symbole der Unschuld, dort die Bestien, die nun aber nicht mehr wie Bestien wirken, sondern wie normale Väter.


Grossartig, wie Žbanić das Spiel der Blicke hier filmisch inszeniert. Die kurzen, flüchtigen Blicke der Männer auf Aida verraten, dass sie gerne vergessen möchten aber nicht können, weil sie, die Überlebende, dort ist. Aida ist ihr Mahnmal, diejenige, die das Vergessen verunmöglicht und die trotz allem noch imstande ist, an die Möglichkeit einer Versöhnung zu glauben. Weil Menschen, so scheint uns der Film zu sagen, nicht als Bestien auf die Welt kommen, sondern zu Bestien werden, wenn sie mit Hass, Rassismus und Brutalität genährt werden. Aida ist zurückgekehrt, weil die Kinder derjenigen, die zu Bestien geworden sind, keine Schuld tragen und ein Recht darauf zu haben, in einer lebenswerten Welt erwachsen zu werden.

Auch ein anderer Film in der Sektion Internationaler Wettbewerb der Langfilme thematisiert Mord, Grausamkeit und Brutalität. Michael Francos Nuevo Orden (New Order) spielt in einer nahen Zukunft, in der in Mexiko in Folge eines Volksaufstandes ein Putsch stattfindet, bei dem das korrupte Militär und die nicht weniger korrupte politische und wirtschaftliche Elite vor keinem Mittel zurückschreckt, um die Bevölkerung zu unterdrücken und auszubeuten. In der hier dargestellten Gesellschaft handeln fast alle Individuen – Aufständische, einfache Soldaten, Generäle, Politiker, Arme und Reiche – nur aus purer Gier und Egoismus.

In mehreren Interviews behauptet der Regisseur, er habe sich von Werken wie A Clockwork Orange von Stanley Kubrick, George Orwells 1984 und Alfonso Cuaróns Children of Men inspirieren lassen. Gerade im Vergleich mit letzterem Werk werden aber die Schwächen des Filmes sichtbar. Die Qualität von Cuaróns Film liegt nämlich unter anderem darin, dass er politische Gewalt nicht «anthropologisiert», sondern als Folge eines komplexen gesellschaftlichen Machtgeflechts darstellt, bei dem ideologische Einstellungen und ökonomisch-politische Interessen gleichsam eine wichtige Rolle spielen. Staatliche und «revolutionäre» Gewalt werden kritisch untersucht, aber nicht einfach als Ausdruck einer menschlich veranlagten egoistischen Neigung dargestellt. Francos Film ist hingegen eine oberflächliche und ungewollte Karikatur des hobbesschen Naturzustands, wo alle homo homini lupus, also sich gegenseitig ausbeutende Wölfe sind.


In Mexiko wurde der Film zu Recht für die stereotype Darstellung von Reichen und Armen kritisiert, die letztlich nur den Klassismus und Rassismus reproduziere, den der Regisseur zu bekämpfen vorgebe. Zudem wurde der Film auch für die reaktionäre Darstellung von Demonstrant*innen als wilde Chaoten kritisiert. Tatsächlich diskreditiert der Film soziale Proteste insofern, als dass diese als Auftakt und Ursache für den Putsch und somit der Etablierung einer faschistischen Militärdiktatur repräsentiert werden. Ich kann nicht meinen persönlichen Eindruck verhehlen, dass dieser Film nichts anderes ist als der Ausdruck einer sehr reaktionären, sehr bürgerlichen Angst vor einem Mob, vor einer Masse, die, wenn nicht diszipliniert, nur Chaos und Unordnung stiftet. Besonders verstörend finde ich, dass dieser Film in Venedig den Silbernen Löwen gewonnen hat. Da hat wohl jemand, um es mit den Worten des Filmtheoretikers Siegfried Kracauers auszudrücken, nur hingeschaut und nicht wirklich gesehen.

Der chinesische Film Anima (Mo er dao ga) thematisiert die hochaktuelle Beziehung zwischen Mensch und Natur im Zeitalter zunehmender ökologischer Katastrophen. Gedreht im Moerdaoga National Forest Park, in der inneren Mongolei in China, erzählt Cao Jinlings Regiedebut die Geschichte einer Gemeinschaft von armen Holzfällern. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt damit, im Auftrag der Regierung langsam aber systematisch einen tausendjährigen Urwald abzuholzen. Die Ausbeutung wird immer aggressiver. Wir können die Folgen des Wirtschaftswachstums auf verschiedenen Ebenen beobachten. Einerseits führt uns der Film eine unausgewogene, auf Profit orientierte Nutzung natürlicher Ressourcen vor Augen. Anderseits sehen wir, wie durch die Ausbeutung von Natur und Mensch die traditionelle Lebensweise der Ewenken, eines indigenen Volkes Nordasiens mit einem besonders ausgeprägten animistischen Weltbild, in die Krise gerät.


Der Film enthält zahlreiche Szenen von atemberaubender Schönheit: Massive Bäume, von oben gefilmt, lassen uns winzig klein fühlen; Schneelandschaften, vergoldet von den Strahlen der Morgendämmerung; Nebel, der im dichten Wald aufsteigt. Einzigartig sind insbesondere die Filmaufnahmen im Inneren der Holzfällerhütte, wo sich zusammengedrängte Körper im Rauch und im Dampf des Kochherds bewegen. Die Handlung dreht sich um die zwei Brüder Tutu und Linzi, die im selben Holzfällerteam arbeiten. Als Kind tötet Tutu einen Bären – was für die Ewenken ein Tabu ist, ein Sakrileg gegen die Geister des Waldes – und rettet so das Leben seines kleinen Bruders. Die enge Beziehung der beiden zerbricht, als sich Tutu und Linzi in dieselbe Frau verlieben. Die Frau erwählt Linzi und heiratet ihn. Als Tutu einen weiteren Bären tötet und damit vergeblich versucht, das Herz der Frau zu gewinnen, wird die grundsätzliche und unüberbrückbare Differenz zwischen den beiden Brüdern sichtbar: Linzis tiefe, spirituelle Verbundenheit mit dem Wald und seinen Kreaturen kollidiert mit Tutus Geltungsdrang und viel profaneren Weltanschauung.

Der Bruderzwist verschärft sich weiter, weil Linzis Glaube an die Heiligkeit des Waldes dazu führt, dass er sich gegen seine Arbeitsgenossen, einschliesslich seines älteren Bruders, stellt. Trotz seiner verzweifelten Versuche, den Wald zu retten, zeigen sich bald die Folgen der systematischen Rodung. Eines Tages überschwemmen die Wassermassen nach einem Gewitter die Holzfällersiedlung und zerstören sie. Linzis Tochter kommt dabei ums Leben. Dadurch zerbricht die angespannte Beziehung zu seiner Frau endgültig. Letztere kann ihm nicht verzeihen, dass er, anstatt in der Stunde der Not bei seiner Familie zu bleiben, in den Wald gegangen war, um seine Kollegen davon abzuhalten, den letzten Teil des Urwaldes abzuholzen.


Der Film ist hochaktuell, weil er uns vor Augen führt, welche katastrophalen Folgen das exzessive Roden von Wäldern nicht nur hinsichtlich des Klimawandels, sondern auch ganz konkret für das Leben der Menschen hat. Im Sommer des Jahres 2021, wo enorme Regenmassen grosse Regionen Europas und Asiens verwüstet haben, sollte dieser Film als wichtiger Warnruf verstanden werden: Es passiert nicht zum ersten Mal und der Klimaforschung zufolge wird es voraussichtlich immer öfters passieren. Ob eine animistische Resakralisierung der Natur ausreichen kann, um der ökologischen Zerstörung entgegenzuwirken, sei dahingestellt. Fakt ist: Warnzeichen gibt es seit Jahren und sie mehren sich zunehmend. Es wäre an der Zeit, diese Warnzeichen endlich ernst zu nehmen – nicht nur im Kino!