Der Kurzfilm als experimentelles Laboratorium und kommunikativer Anstoß

Vortrag von Werner Schneider-Quindeau, Filmbeauftragter des Rates der EKD, am Kirchenempfang an den 49. Kurzfilmtagen Oberhausen 2003
Die Reise zum Mond (George Meliès)

Die Reise zum Mond (George Meliès)

 

Die Geschichte des Films beginnt mit dem Kurzfilm. Filme unter einer Minute Laufzeit waren Ende des 19. Jahrhunderts die Sensation in Paris oder Berlin. Und in den ersten 15 Jahren der Filmproduktion waren es ausschließlich Kurzfilme, die einem erstaunten und verblüfften Publikum präsentiert wurden. Der Film war gleichsam identisch mit dem Kurzfilm. Es waren Pioniere der Technik und des Bewegungsbildes, die mit Mut und Risiko, mit visionärem Geist und unternehmerischer Tatkraft eine neue kulturelle Praxis entwickelten, die das Gesicht des 20. Jahrhunderts prägen sollte. Vor allem aber waren es kurze Filme, in denen ausprobiert wurde, was später den Reichtum des Films ausmachen sollte: knappe Dokumentationen (L'Arrivée d'un train en gare de La Ciotat / Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat der Brüder Lumiere, 1895), Fantasy (Le voyage dans la lune / Eine Reise zum Mond von Georges Meliès, 1902) oder Comedy (bereits der Slapstick hatte in den Kurzfilmen des Anfangs seinen Platz), aber auch Stoffe des klassischen Theaters und der biblischen Tradition wurden bereits höchst konzentriert und verdichtet bearbeitet, wie z.B. eine Kurzdarstellung der Passion Jesu Christi, die christliche Ikonographie in bewegte Bilder umsetzte.

Meistens waren es eine Reihe von Kurzfilmen, die bei einem Kinobesuch zu sehen waren. Dieser Charme des Anfangs, dieser Zauber aus Neuem, bisher nie Gesehenem und Überraschendem hat der Kurzfilm im Laufe der Filmgeschichte nie verloren. Alle Meister des Kinos haben mit Kurzfilmen begonnen und ihre Kreativität und Imaginationskraft in der kleinen Form erprobt, bevor sie in der Lage waren, tragfähige und durchgestaltete Langfilme zu machen. Denn wer ein Drama in 10 oder 15 Minuten packend erzählen kann, wer neue Perspektiven auf die Menschen und ihre Verhältnisse durch ungewohnte Kameraeinstellungen in aller Kürze zu werfen vermag, der wird dieses innovative Moment auch bei größeren Produktionen nie ganz verlieren.

Die Erneuerungsfähigkeit des Kinos erweist sich immer wieder darin, ob Regisseure und Regisseurinnen bereit sind, mit dem Anfang - und d.h. mit dem Kurzfilm - anzufangen. Gerade in seinen experimentellen Formen stellt der Kurzfilm die ständige Erinnerung an den Anfang allen Filmemachens dar. Ob Videoclip, Werbe- oder Animationsfilm: in der kurzen Form wird nach den neuen Ausdrucksweisen gesucht, die der gesamten Filmkultur entscheidende Impulse gegeben haben und immer wieder geben. Als Laboratorium der filmischen Experimente, in dem ein neuer Stil und ungewohnte Sichtweisen, wagemutige Kamerafahrten und kühne Bildkompositionen erprobt werden, zeichnet sich der Kurzfilm aus. Er ist eine eigenständige filmische Form, die als Vorfilm oder „Kulturfilm“ eher abgewertet oder unterschätzt wird. Deshalb sollte er auch seinen eigenen Platz im Kino haben. Kurzfilmprogramme, die eine Reihe von ausgezeichneten Kurzfilmen präsentieren, finden im Kinopublikum immer mehr Liebhaberinnen und Liebhaber. Dass der Kurzfilm als Vorfilm in den meisten Kinos den Werbetrailern hat weichen müssen, ist daher um der besonderen Aufmerksamkeit für den Kurzfilm willen auch nicht allzu sehr zu bedauern.

Besonders die Qualität als Gleichnis oder Parabel gewinnt der Kurzfilm durch die zeitliche Begrenzung und die damit verbundenen formalen Herausforderungen. Andeutungen sind ihm wichtiger als breite Erklärungen und Ausführungen. Einige skizzenartige Striche, Bilder, die im Nu eine ganze Welt enthalten und schnell zur Pointe einer Geschichte oder einer Wahrnehmung führen: der Kurzfilm kann sich im Unterschied zum Langfilm keine Längen leisten, die epische Breite ist seine Sache nicht. Darin ist er der literarischen Form der biblischen Gleichnisse verwandt, in denen alltägliche Begebenheiten überraschend den Blick öffnen für eine neue, eine andere Wirklichkeit, die z. B. in den Gleichnissen Jesu Reich Gottes heißt.

Ein Bauer sät, ein Gastgeber lädt zum Festmahl, ein Weinbergbesitzer sucht Arbeiter für seinen Weinberg oder ein Hirte sucht ein verlorenes Schaf: mit wenigen Worten wird eine alltägliche Erfahrung in den Blick genommen, um sie mit einer kleinen Geschichte zu verbinden, die eine unvorhergesehene Pointe hat. An ihr soll eine Bedeutung veranschaulicht werden, die den Menschen eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit, dem Mitmenschen, ihn selbst und auf Gott eröffnet. Das Säen des Bauern als Ausdruck des Gottvertrauens, die Einladung ergeht an diejenigen, die zunächst nicht eingeladen waren, der Weinbergbesitzer bezahlt allen trotz unterschiedlicher Arbeitszeit den gleichen Lohn und die Suche nach dem Verlorenen ist wichtiger als die Sorge um die Anwesenden: die literarische Kurzform des Gleichnisses zielt auf überraschenden Erkenntnisgewinn und offene Fragen.

Im Experiment verändert sich die vertraute Alltagserfahrung und verwandelt Selbstverständlichkeiten in neue Fragestellungen. Gleichnisse sind solche Experimente mit unseren Seh-, Hör- und Sprachgewohnheiten, damit Raum für neues Sehen, Hören und  Sprechen entsteht. Gelungene Kurzfilme sind für mich solche Gleichnisse. Sie können unsere Augen und Ohren für Wahrnehmungen öffnen, die wir in der Regel gerade übersehen und überhören. In der Regel kommt in diesem neuen Hör- und Sehraum Gott nicht vor, aber er kann nur dort zur Sprache kommen, wo noch einmal anders gehört und gesehen wird als wir es gewohnt sind. Und weil die Kurzfilme wie die Gleichnisse stets einen neuen Anfang suchen, um das Alltägliche und Selbstverständliche zu irritieren, und weil sie nicht das Immergleiche wiederholen können, wirken sie so frisch und unverbraucht.

Auch wenn der deutsche Kurzfilm inzwischen hauptsächlich in den Filmhochschulen zu Hause ist und für die Zwecke von Abschlussprüfungen erstellt wird, hat er nichts von seinem kreativen und experimentellen Charakter verloren. Die Anfängerinnen und Anfänger der Filmkunst erproben im Kurzfilm ihre Talente, wobei die Begabten bereits hier ihre Fähigkeiten erweisen. Aber es gibt eine ganze Reihe von Filmemacherinnen und Filmemacher, die der Form des Kurzfilms treu bleiben und hier ihre künstlerische Meisterschaft entfalten. Als Beispiele seien nur Matthias Müller, der Tscheche Jan Svankmajr und Susanne Horizon-Fränzel genannt. Sie finden im Kurzfilm einen genuinen Ausdruck für ihre künstlerische Arbeit.

Der Zauber des Anfangs, der von jedem ihrer Kurzfilme ausgeht, entwirft sich in geradezu philosophischen, meditativen Bildwelten, die uns anregen, über Welt und Existenz, Globalisierung und unseren eigenen Ort nachzudenken. Als offener Entwurf wollen Kurzfilme nicht nur zeigen, sondern zugleich das Denken und das Gespräch anstoßen. In der Kürze vermitteln sie Hinweise, Fingerzeige, Konstellationen und Fragmente, die einen Anstoß zu weitergehenden Betrachtungen und Kommentaren liefern. Die Zukunft des Kurzfilms in der Bildungsarbeit steht m.E. noch aus. Zwar gibt es die verdienstvollen Bemühungen von kirchlichen Medienzentralen und von Ton- und Bildstellen, Kurzfilme für die pädagogische Arbeit mit entsprechendem Begleitmaterial anzubieten, aber die kommunikative Chance, die gerade der Kurzfilm im schulischen Unterricht, aber auch in der Erwachsenenbildung eröffnen würde, scheint mir nach wie vor weitgehend ungenutzt zu sein.

Wie die biblischen Gleichnisse verlangen auch die Kurzfilme nach dem Gespräch. Kann denn wirklich wahr sein, was wir gesehen und gehört haben? Welcher Anspruch steht hinter dem Gesehenen und Gehörten? Weil so vieles ungesagt und nicht gezeigt wird, ist das Publikum anders als bei vielen Langfilmen herausgefordert, die Lücken und die Leerstellen selber zu besetzen und mit dem Gesehenen in einen spannungsvollen Austausch zu treten. Wie und wo komme ich im Gleichnis oder im Kurzfilm selber vor? Hat mich die Pointe erreicht? Wurde ich angeregt unterhalten oder bin ich eher unbeteiligt?

Ein genialer Kurzfilm wie Pepe Danquardts Schwarzfahrer operiert mit diesen Fragen zum Thema Fremdenfeindlichkeit und sollte in den Schulen wie ein Gedicht von Goethe in den Bildungskanon aufgenommen werden. Hier wird elementar zur anschaulichen Lernerfahrung, was Fremdenfeindlichkeit heißt und wie ihr auf intelligente, humorvolle und listige Art und Weise begegnet werden könnte. Das folgende Gespräch wird stets bei uns anfangen: mit unseren Bildern und Vorurteilen, Zuschreibungen und Abwehrhaltungen, mit unserem Zuschauen und unserer Angst. Wo wir beginnen, angestoßen durch Kurzfilme oder auch biblische Gleichnisse über uns selbst nachzudenken, fangen wir an, die Welt noch einmal anders zu sehen.

Die „Oberhausener Kurzfilmtage“ sind in vielfältiger Weise ein hervorragender Ort für solche Anfänge. Wenn wir nicht mehr weiter machen wollen wie bisher, dann müssen wir fragen, wie und wo wir neu anfangen wollen. So wie die Unterzeichner des Oberhausener Manifestes vor über 40 Jahren, mit dem der junge deutsche Film begann und dem geradezu eine Welle von kreativen Produktionen folgte. Mit ihren Protagonisten gelangte der deutsche Film nach dem zweiten Weltkrieg wieder zu Weltruhm, weil er die ausgetretenen Pfade verließ und sich ein neues Terrain filmischen Stils erschloss. Wenn die Kirchen lernen wollen, was es heißt, immer wieder mit dem Anfang anzufangen, dann könnten sie bei den „Oberhausener Kurzfilmtagen“ in die Schule gehen. Denn sie würden Kurzfilme entdecken, die in ihrer visionären Kraft und ihrer orientierenden Bedeutung wie die Gleichnisse Jesu sind, ohne dass sie ausdrücklich vom Reich Gottes sprechen. Lernend sich verändern kann nur derjenige, der das Experiment eines neues Schrittes oder eines neuen Ausdrucks oder Stils wagt. Kurzfilme sind für mich Zeugnisse solcher Lernerfahrungen. Deshalb brauchen wir sie und ein solches Festival wie das von Oberhausen.