Cannes 2023/4

Les filles d'Olfa (Four Daughters, Internationaler Wettbewerb)

Les filles d’Olfa von Kaouther Ben Hania, eine Art Reflektion eines Films im Film, der Realität und Fiktion so vernetzt, dass man beide manchmal nicht mehr unterscheiden kann, zeichnet die wahre Geschichte von Olfa nach, deren zwei ältesten Töchter sich bei Daesh, dem sogenannten Islamischen Staat (IS), engagiert haben. Wie konnte es dazu kommen? Als alleinerziehende Mutter, die als Teenagerin ihre ebenfalls alleinerziehende Mutter verteidigen musste, will Olfa ihre Töchter anständig erziehen, manchmal mit harten Methoden. Die beiden jüngsten Töchter, inzwischen herangewachsen, erzählen von dieser Härte, der Dialog zwischen ihnen und der Mutter ist bisweilen scharf. Und doch ist gegenseitige Liebe da. Die jüngeren liebten ihre älteren Schwestern und hätten gerne wie sie den Hidjab getragen, der ihnen als Zeichen der Revolte gegen das bestehende System vorkam: der Verweis auf Gott als Möglichkeit, die Mutter zu provozieren. Der Abspann berichtet, dass die beiden älteren Schwestern in Lybien in Haft sind, wo die eine ihre kleine Tochter großzieht.

Banel e Adama (Internationaler Wettbewerb)

Banel e Adama von Ramata-Toulaye Sy erzählt die traurige Geschichte eines jungen Liebespaares aus einem trockenen Land, dem Norden des Senegal, eingefangen in sehr schönen Bildern aus Licht, Sonne und Sand. Liebe und Tradition, Religion und Aberglaube, alles zusammen ergibt eine Mischung, aus der es kein Entrinnen gibt. Der Film erinnert an Il va pleuvoir sur Conakry von Cheick Fantamady Camara, der immerhin durch seinen Humor noch einen Ausweg fand. Hier bleibt nur noch der Sand, der jede Hoffnung unter sich begräbt.

How to Have Sex (Un Certain Regard)

How to have Sex von Molly Manning Walker erzählt von einer anderen Traurigkeit. Dabei fängt alles an wie eine Riesenfete. Drei junge Engländerinnen fahren zum ersten Mal alleine in Urlaub, fest entschlossen, zu feiern und, für eine von ihnen, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Schminke, Alkohol bis zum Umfallen, lachen, tanzen, der erste Teil des Films ist eine Explosion von Bildern in schneller Folge, Farben, lauter Musik. Dazwischen erste Blicke, eine vorsichtige Annäherung. Und dann… In unserer Gesellschaft, die Sex als Leistungssport betrachtet, wie kann man lernen, mit seinen Gefühlen und seinem Verlangen umzugehen? Darf man ‚nein‘ sagen, wenn man nicht will, ohne als Spielverderber zu gelten?  Und wenn man merkt, dass ‚das‘ nicht cool ist, wie wird man mit seinen Schuldgefühlen fertig? Wenn man immer so tun muss, als sei alles top, während man innerlich ganz kaputt ist? Die Regisseurin liefert hier eine sehr sensible Analyse des Erwachsenwerdens.

The New Boy (Un Certain Regard)

Warwick Thornton, der Preisträger der Goldenen Kamera 2009 für Samson and Delilah, Film, liefert mit The New Boy ein sehr persönliches Werk. Er selbst, zunächst groß geworden in der Spiritualität der Ureinwohner Australiens, kam in eine Klosterschule und war sehr von der Darstellung der Kreuzigung fasziniert. Im Film wird ein Junge der Ureinwohner gekidnappt und in einem Kloster abgeliefert, das Waisenkinder unterschiedlicher Herkunft erzieht und gleichzeitig als Arbeitskräfte einsetzt. Die übernatürlichen Kräfte des Jungen faszinieren die Schwestern. Verwundert vor dem Kruzifix stehend, erhält er die Stigmata. Bei allem Respekt vor dem Filmemacher und einem vielversprechenden Anfang können die schlichte Symbolik und simple spirituelle Ambivalenz des Films nicht überzeugen.