Cannes 2021: Die Preisträger

Abschlussbericht vom 74. Festival de Cannes. Von Peter Paul Huth


Als der künstlerische Leiter Thierry Frémaux und seine Equipe im Mai das Programm zusammenstellten, war nicht klar, ob es im Juli überhaupt ein Festival geben würde. Die Inzidenz war in Frankreich nach wie vor hoch und niemand wusste, ob die riskante Planung aufgehen würde. Aber es ist gut gegangen, und die Erleichterung, ja Begeisterung, war überall zu spüren. Nach monatelangen Lockdown war es plötzlich wieder möglich, das Kino als einen Ort kollektiver Erfahrung zu erleben. „Le Festival est un miracle permanent“, meinte Thierry Frémaux zum Abschluss und erhielt dafür begeisterten Applaus. Trotzdem war nichts mehr so wie vor der Pandemie, medizinische Kontrollen am Festivalpalais (aber nicht vor dem Kino!), strenge Maskenpflicht und Ticketbuchungen Online. Das war manchmal mühsam, aber funktionierte insgesamt ganz gut.

Cannes 2021 war ein Festival nach dem und immer noch im Ausnahmezustand. Die Qualität der Filme hat jedoch unter den besonderen Umständen nicht gelitten. Im Gegenteil, es war eine façettenreiche Auswahl mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem französischen Kino. Dass mit Julia Ducournau die jüngste Regisseurin und zweite Frau nach Jane Campion 1993 die Goldene Palme gewinnen würde, damit hätte vor Beginn des Festivals wohl niemand gerechnet. Zur allgemeinen Überraschung verkündete Jury Präsident Spike Lee die Siegerin nicht am Ende, sondern gleich zu Beginn der Preisverleihung. So waren die Verhältnisse von Anfang an klar und die anderen Preisträger wurden nicht auf die Folter gespannt.

„Titane“ war wohl der radikalste Film des Wettbewerbs und wurde schnell zum Geheimfavoriten. Auf jeden Fall war es mutig, diesen Film auszuzeichnen, der vielen als eine harte Zumutung erschien. Treffend bedankte sich Julia Ducournau bei der Jury, „Danke, dass sie die Monster hereingelassen haben“. „Titane“ ist wie ein Monster, wie ein cineastischer Alptraum, abstoßend und verstörend, dem man sich nicht entziehen kann.

Auch die anderen Preise waren klug ausgewählt. Der Große Preis der Jury ging ex-aequo, also zu gleichen Teilen, an den Iraner Asghar Farhadi und den Finnen Juho Kuosmanen. Mit „A Hero“ und „Abteil Nr. 6“ wurden zwei herausragende Filme ausgezeichnet, die auf scheinbar einfache, aber eindringliche Weise sehr humane Geschichten erzählen. Bei Farhadi kämpft ein Mann um seine soziale Anerkennung, bei Kuosmanen treffen sich zwei völlig unterschiedliche Menschen in einem Eisenbahnabteil: Eine lesbische Akademikerin aus Finnland und ein russischer Bergarbeiter, die nach anfänglichem Widerwillen eine tiefe, fast wortlose Freundschaft entwickeln. Bei der Preisverleihung betonte Farhadi, dass er seine Filme nicht für cineastische Insider, sondern für ein breites Publikum machen möchte. Kuosmanen, der auch eine besondere Erwähnung der Ökumenischen Jury erhielt, erzählte von den 30.000 km, die er mit seinem Team bei der Vorbereitung und den Dreharbeiten in der russischen Eisenbahn zurückgelegt hat.

Der Favorit der Kritiker, der Japaner Hamaguchi Ryusuke, gewann für „Drive My Car“ am Ende nur den Preis für das beste Drehbuch. Vorher hatte er schon den Preis der Ökumenischen Jury und den FIPRESCI-Preis der Internationalen Filmkritik bekommen. Drei Stunden dauert seine Verfilmung einer Kurzgeschichte von Huraki Murakami, ein Schauspieler und Regisseur wird in einem roten Saab nach Hiroshima gefahren, wo er Tschechows „Onkel Wanja“ inszenieren soll. Unterwegs tauschen er und die Fahrerin sich über ihre Lebensgeschichten aus. Das ist mit großer Aufmerksamkeit für psychologische Details inszeniert. Für Murakami-Fans ein Muss, für andere eine filmische Geduldsprobe.

Dass der Norweger Joachim Trier mit „The Worst Person in the World“ etwas gewinnen würde, war von Anfang an klar. Dass seine charismatische Hauptdarstellerin Renate Reinsve als ‚Best Actress of the Festival‘ ausgezeichnet wurde, war geradezu zwingend. Der Regie-Preis für Joachim Triers einfallsreiche Inszenierung wäre auch in Ordnung gewesen. Dass der an Leos Carax für sein französisch-kalifornisches Musical „Annette“ ging, war vielleicht zu viel der Ehre. Aber Carax wird in Frankreich und anderswo seit Jahren als Kultregisseur geschätzt, um nicht zu sagen verehrt. Ein größerer Preis war endlich fällig.

Es fällt schwer eine nüchterne Bilanz des 74. Festival de Cannes. Zu ungewöhnlich waren die Umstände, zu groß die Freude über die Wiederauferstehung des Kinos auf der Bühne des wichtigsten internationalen Filmfestivals. Sagen wir hoffnungsvoll, „Bis zum nächsten Jahr!“