Italienischer Auftakt
Alberto Barbera rief und alle kamen. Wieder schaffte es der Leiter des Festivals von Venedig in diesem Jahr, eine imposante Anzahl an internationalen Stars auf den Roten Teppich zu holen. Zum Auftakt waren es Paolo Sorrentino und sein Hauptdarsteller Toni Servillo, danach ging es Schlag auf Schlag: Emma Stone, George Clooney, Adam Sandler, Laura Dern, Oscar Isaac, Jacob Elordi und Christoph Waltz. Jude Law und Paul Dano, nicht zu vergessen Julia Roberts, Andrew Garfield und nicht zuletzt Cate Blanchett. Sie alle sah man beim Defilee vor dem Palazzo del Cinema.
Aber zurück zum Anfang. Mit „La Grazia“ gelang Alberto Barbera eine fulminante Eröffnung. Paolo Sorrentino erzählt die Geschichte eines fiktiven italienischen Präsidenten, der in den letzten Monaten seiner Amtszeit mit einer Reihe moralischer Dilemmata konfrontiert wird. Toni Servillo spielt ihn als einen äußerst kontrollierten Juristen, der Standardwerke über Strafrecht verfasst und den Tod seiner Ehefrau nie verwunden hat. Beraten wird er von seiner Tochter (Andrea Ferzetti), die ihm zwei Begnadigungsgesuche vorlegt sowie ein Gesetz zur Sterbehilfe - im katholischen Italien ein äußerst kontroverses Thema. Am Ende wird er einige überraschende Entscheidungen treffen, doch vorher quält ihn die Frage, mit wem ihn seine Frau vor 40 Jahren betrogen hat.
„La grazia é la bellezza del dubbio“ (Gnade ist die Schönheit des Zweifels) lautet einer der zentralen Sätze dieses Films, der die ganze Bandbreite des Begriffs der Gnade durchspielt und am Ende zu Versöhnung und Liebe findet. „Sorrentino is back“, schreibt Paolo Mereghetti im Corriere della Sera und bringt es auf den Punkt. Paolo Sorrentino, der mit seinen letzten Filmen enttäuschte, hat zum cineastischen Niveau seiner besten Werke zurückgefunden; „La Grazia“ ist nach wie vor einer der Favoriten bei der Kritik.
Ein weiterer Film Made in Italy, „Il Maestro“ von Andrea di Stefano, lief im Wettbewerb außer Konkurrenz. Pierfrancesco Favino, der in jedem seiner Filme beeindruckt, spielt den abgehalfterten Tennis-Profi Raul Gatti, der vom hyperehrgeizigen Vater des 13jährigen Felice, großartig gespielt von Tiziano Menichelli, als Personal Trainer angeheuert wird. Was als eine leichte Komödie beginnt, gewinnt im Laufe des Films zunehmend an dramatischer Tiefe, der Ex Tennis Star entpuppt sich als gescheiterte Existenz, dessen schwere Depression von gelegentlichen manischen Schüben unterbrochen wird. Am Ende ist es der Junge, der sich um seinen Trainer kümmert und eine Sohn-Vater Beziehung zu ihm entwickelt.
„Maestro“ ist eine originelle Coming-of-age-Geschichte angesiedelt im Italien der späten 80er Jahre. „É un viaggio attraverso il dolore della crescita, la potenza dell’insegnamento e la bellezza dei legami umani; una commedia all’italiana per chiunque creda ancora che il mondo possa essere migliore, una lezione alla volta“ (Es ist eine Reise durch die Schmerzen des Erwachsenwerdens, die Kraft des Lernens und die Schönheit menschlicher Beziehungen; eine italienische Komödie für alle, die noch daran glauben, dass die Welt besser werden kann, eine Lektion nach der anderen), wie der Regisseur seinen Film beschreibt. Schon vor zwei Jahren hatte di Stefano, der als Schauspieler begonnen hat und sich erst mit Anfang 50 als Regisseur etablierte, mit „L’ultima notte di Amore“ (The Last Night of Amore, Italien 2022) einen starken Eindruck im Panorama der Berlinale hinterlassen.
Amerikanische Stars
Kein Ereignis sichert einem Festival mehr mediale Aufmerksamkeit als der Auftritt amerikanischer Stars. Was könnte spektakulärer sein als die Anwesenheit George Clooneys in Venedig? Wegen Krankheit sagte er zwar alle Termine ab und erschien auch nicht zur Pressekonferenz, kam aber, um seine Fans nicht zu enttäuschen, tapfer auf den Roten Teppich. In „Jay Kelly“ spielt er eine fiktive Version seiner selbst, einen Filmstar, der plötzlich mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Bei einem Vorsprechen als junger Schauspielschüler hatte er einen befreundeten Mitschüler ausgestochen. Für Jay war es der Beginn, für Timothy das Ende seiner Karriere. Als sie sich Jahrzehnte später zufällig wiederbegegnen, kommen bei dem einstigen Freund (Billy Crudup) Frustration und Wut wieder hoch, der Abend endet in einer Schlägerei. Als ein Video davon auftaucht und Jay Kelly angezeigt wird, hat sein Manager und Agent Ron (Adam Sandler) alle Hände voll zu tun, die Angelegenheit lautlos zu bereinigen. Auch sein Pressefrau Liz (Laura Dern) tut alles, um jede Form negativer Publicity abzuwenden.
Statt sich auf sein nächstes Filmprojekt vorzubereiten, will Jay plötzlich in die Toskana fahren, angeblich um eine Ehrung bei einem Filmfestival anzunehmen, in Wirklichkeit, um seiner Tochter nachzuspionieren. Seine ganze Entourage muss natürlich mitreisen. Bei der Fahrt von Frankreich nach Italien kommt es zu skurrilen und komischen Situationen, als plötzlich der prominente Filmstar im Zugabteil auftaucht. Irgendwann haben Liz und der Rest der Entourage keine Lust mehr auf Jays Launen und setzen sich ab. Bei der Ehrung, bei der wir auch einen Zusammenschnitt von Szenen aus George Clooneys Filmographie sehen, bleibt nur noch der treue Ron an Kellys Seite. „Jay Kelly“ erzählt auf unterhaltsame Weise vom existentiellen Dilemma eines Stars und Womanizers, der plötzlich erkennen muss, dass er im Laufe seiner Karriere seine Töchter, Freunde und Mitarbeiter so vernachlässigt hat, dass er am Ende allein dasteht.
Julia Roberts verkörpert eine deutschstämmige Philosophieprofessorin im neuen Film von Luca Guadagnino, der auf dem Lido für Aufregung sorgte und es sogar zu einer Meldung in der New York Times brachte. „After the Hunt“ spielt im akademischen Milieu einer amerikanischen Ivy League-Universität. Eine Studentin behauptet, von einem Professor (Andrew Garfield) vergewaltigt worden zu sein, der seinerseits den Vorwurf vehement bestreitet. Die Studentin sucht die Unterstützung von Julia Roberts, die - wie auch der Zuschauer - versucht, die Wahrheit herauszufinden. In der Pressekonferenz schlugen die Wellen hoch, als Guadagnino vorgeworfen wurde, mit seinem „anti-feministischen“ Film die #MeToo-Debatte um Jahre zurückzuwerfen. Eine graphische Hommage im Titelvorspann an Woody Allen erhitzte die Gemüter zusätzlich.
Großes Lob gab es für Julia Roberts, die 35 Jahre nach „Pretty Woman“ als intellektuelle Frau überzeugt und schon als Oscar-Kandidatin ins Spiel gebracht wird. „Not everything is supposed to make you feel comfortable“ (Nicht alles muss dir ein gutes Gefühl geben), sagt ihre Figur zu der Studentin, die ihren Professor anzeigt, und bringt damit die Intention des Films auf den Punkt. „After the Hunt“ führt uns in ein spannendes moralisches Dilemma, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt.