Bologna ist nicht nur berühmt für seine alte Universität und sein gutes Essen. Die Stadt ist dank der Cineteca di Bologna im Laufe der letzten Jahrzehnte auch zu einem Mekka der Kinokultur geworden. Sie ist ein weltweit renommiertes Zentrum für die Restaurierung und Konservierung von Filmen. Seit 1986 veranstaltet die Cineteca das Festival „Il Cinema Ritrovato“, das sich von einer dreitägigen Insider Veranstaltung zu einem internationalen Event entwickelt hat. Wer ein Faible für klassische Filme hat, ist hier am Ziel seiner Träume. Auch in diesem Jahr lockte Bologna wieder mit ausgefallenen Retrospektiven und einer Vielzahl an restaurierten Filmen. Das Festival beeindruckt durch seine unprätentiöse, demokratische Art. Es gibt keinen Roten Teppich, keine VIP-Lounge und keine Akkreditierungen erster oder zweiter Klasse. Vertreter internationaler Filmarchive, Kritiker und Spezialisten des Filmerbes treffen auf der Piazetta vor dem Cinema Lumière auf Festivalbesucher aus aller Welt.
Von den Brüdern Lumière zu Buster Keaton
Die Filmpioniere Auguste und Louis Lumière waren Gegenstand einer Hommage, die Thierry Frémaux, unter dem Titel „Lumière, l’aventure continue!“ (Lumière, das Abenteuer geht weiter) zusammengestellt hatte. Frémaux, Leiter des Festivals von Cannes, der auch das Institut Lumière in Lyon leitet, präsentiert in dem Zusammenschnitt eine exemplarische Auswahl der mit dem Cinématographe gedrehten Filme, einem Apparat, der die Funktionen einer Filmkamera, Kopiergerät und Projektor kombinierte und von den Brüdern Auguste und Louis Lumière entwickelt wurde. Am 28. Dezember 1895 fand im Grand Café am Boulevard des Capucines in Paris die erste öffentliche Filmvorführung Frankreichs vor zahlendem Publikum statt, bei der Angestellte der Brüder Lumière zehn selbstgedrehte Kurzfilme zeigten.
Die Filme hatten eine maximale Länge von 50 Sekunden, viele von ihnen drehte Louis Lumière selbst, später bildete man in Lyon Operateure aus, die das Geschehen in Frankreich und in anderen Ländern dokumentierten und uns heute einen Einblick in die Welt des Fin de Siècle bieten. New York mussten die Kameraleute von Lumière wieder verlassen, weil Thomas Edison die filmische Konkurrenz fürchtete. Überrascht stellt man fest, dass die viel beschworene Tiefenschärfe, die André Bazin, der geistige Vater der Nouvelle Vague, in Orson Welles‘ „Citizen Kane“ (1941) zu entdecken glaubte, schon um die Jahrhundertwende bei den Brüdern Lumière zu finden war.
Thierry Frémaux stellte auch die restaurierte Fassung von „L’Horloger de Saint-Paul“ (Der Uhrmacher von St. Paul 1974) vor, dem Kinodebüt seines Mentors Bertrand Taverniers. Tavernier, der bis dahin als Filmkritiker und PR-Agent gearbeitet hatte, verlegte die Romanvorlage von George Simenon „Der Uhrmacher von Everton“ von den USA in seine Heimatstadt Lyon. Ohne die Unterstützung von Philippe Noiret, der den Uhrmacher Michel Descombes spielt, wäre der Film wohl nicht zustande gekommen. Jacques Denis als sein Freund und Jean Rochefort als Polizeiinspektor ergänzen das Ensemble von Figuren, die im Alltag von Lyon verankert sind. Im Rückblick wirkt der Film wie eine emotionale Hommage an die Stadt, in der Tavernier seine Kindheit verbracht hat.
Zu den besonderen Ereignissen des Festivalgeschehens zählen die Vorführungen auf der Piazza Maggiore. Jeden Abend ist der Platz komplett besetzt, manche Zuschauer sitzen auf den Stufen vor der Kathedrale. Der Eintritt ist frei. Jack Nicholson konnte man gleich zweimal sehen, in „One Flew Over the Cuckoo‘s Nest” (Regie: Miloš Forman, 1975) und in “Five Easy Pieces” (Regie: Bob Rafelson, 1970). Fulminanter Höhepunkt war die Präsentation der restaurierten Fassung von Charlie Chaplins „The Gold Rush“ (Goldrausch, 1925), musikalisch begleitet vom Philharmonischen Orchester der Stadt, aus Anlass der Premiere des Films vor 100 Jahren. Auch im ewigen Eis Alaskas ist Chaplins Tramp immer noch wie ein verarmter Großbürger gekleidet. Nachdem er Hunger und Kälte durchlitten hat, verprügelt und gedemütigt wurde, wird er am Ende gesellschaftlich rehabilitiert und verlässt die Szenerie als Millionär, nicht ohne auf der Schiffspassage seiner großen Liebe Georgia wieder zu begegnen. „The Gold Rush“ zeigt Chaplin auf der Höhe seiner Stummfilmkunst, in einer grandiosen Verbindung von Slapstick und Romantik.
Vorher hatte die Enkelin Carmen Chaplin eine Dokumentation präsentiert, in der ihr Vater Michael, Chaplins ältester Sohn, sich auf die Suche nach den „Gypsy Roots“ seines Vaters macht. Das gibt Anlass zu wilden Spekulationen. Angeblich wurde Chaplin gar nicht in London, sondern auf einem Roma-Platz außerhalb von London geboren. Überhaupt floss in seinen Adern jede Menge „Gipsy Blood“ und wurde zur entscheidenden Inspirationsquelle für seine Komik. Die Dokumentation wirkt mit ihrer steilen These wie eine verunglückte Familien-Story, die viel behauptet und wenig belegt.
Ganz anders Dante Desarthes Portrait über Chaplins genialen Kollegen, „Buster Keaton. L’art de la chute“ (Die Kunst des Fallens). Der Titel zielt einerseits auf Keatons unglaubliche Stunts, bei denen er so spektakulär fällt, dass man sich fragt, wie er sie unverletzt übersteht. Andererseits auf seinen kometenhaften Aufstieg und seinen Absturz am Ende der Stummfilm Ära. Joseph Frank Keaton, geboren 1895, trat schon im Alter von vier Jahren bei Music Hall Shows auf, wo ihn sein Vater zum Entsetzen und Gelächter des Publikums in alle Ecken der Bühne schleuderte. 1917 begegnet er Roscoe „Fatty“ Arbuckle, neben Chaplin einer der berühmtesten Komiker seiner Zeit. Keaton dreht mit Arbuckle zahlreiche Kurzfilme bevor er die Chance bekommt, ein eigenes Studio zu etablieren und unabhängige Projekte zu realisieren. Keaton ist ein filmisches Allround-Genie, er denkt sich die Geschichten aus – ein Drehbuch gab es meistens nicht ‒ führt Regie und entwickelt Gags. Selbst die gefährlichsten Stunts macht er selbst. Buster Keatons Markenzeichen sind sein Pokerface und rasante Verfolgungsjagden.
Anders als Charlie Chaplin verzichtet er auf jede Form von Pathos und Gefühligkeit. Seine Filme sind radikal anarchisch und unsentimental. Mit „Cops“ (1922), „Sherlock Jr.“ (1924), „Go West“ (1925) und „The General“ (1926) ist er während der 1920er Jahre auf der Höhe seines Ruhms. Als er Anfang der 30er Jahre bei MGM landet, will ihm das Studio eine rigide Kontrolle aufzwingen, die seinen improvisatorischen Ansatz zuwiderläuft. Keatons große Karriere ist vorbei, er muss sich mit Nebenrollen durchschlagen und hat in Billy Wilders „Sunset Boulevard“ einen denkwürdigen Auftritt in einer Pokerrunde ehemaliger Stummfilmstars. Der amerikanische Kritiker Roger Ebert sagte über ihn "The greatest of the silent clowns is Buster Keaton, not only because of what he did, but because of how he did it. Harold Lloyd made us laugh as much, Charlie Chaplin moved us more deeply, but no one had more courage than Buster."
Es macht den besonderen Charme von Bologna aus, dass man hier Charlie Chaplin und Buster Keaton nebeneinander erleben kann.
Gefährliche Frauen
„Duel in the Sun“ (Duell in der Sonne, Regie: King Vidor, 1946) ist eine Legende des Hollywood Kinos. Auf den ersten Blick ein epischer Western, doch dahinter entfaltet sich in den üppigen Farben von Technicolor eine atemberaubende Geschichte von verbotener Liebe und erotischer Spannung. Nach dem Welterfolg von „Gone With the Wind“ (Vom Winde verweht,1939) wollte der einflussreiche Produzent David O. Selznick wieder ein monumentales Liebesdrama auf die Leinwand bringen.
Für die Hauptrolle hatte er seine Geliebte, die 24jährige Schauspielerin Jennifer Jones vorgesehen. Joseph Cotton und der junge Gregory Peck sind zwei gegensätzliche Brüder, die um ihre Gunst rivalisieren. Die Stummfilmikone Lilian Gish tut alles, um die junge Frau auf den Pfad der Tugend zu bringen, während ihr Mann, Lionel Barrymore, nicht begeistert ist, eine „half breed“-Frau im Haus zu haben. Der Film wurde im 4K-Format restauriert und mit einer Einführung von Martin Scorsese versehen, der davon erzählt, wie er „Duel in the Sun“ im zarten Alter von vier Jahren gesehen hat. Seine Mutter hatte ihn mit ins Kino genommen. „Der Film hat mich so aufgewühlt, dass ich mich für den Rest meines Lebens nicht davon erholt habe.“
Kein Wunder, denn was der kleine Martin sah, war ein wildes Gebräu aus Begierde, Sex und Gewalt. Jennifer Jones ist Pearl Chavez, Tochter eines weißen Pokerspielers und einer mexikanisch-indianischen Tänzerin. Sie wird Zeuge, wie der eifersüchtige Vater die Mutter und ihren Liebhaber erschießt. Pearl landet bei ihrer Tante Laura Belle auf einer Ranch in Texas. Ihr autoritärer Mann (Lionel Barrymore), der von allen nur als Senator angesprochen wird, sitzt im Rollstuhl und schimpft auf die Indianer, die Steuern und die Eisenbahn. Als sein kultivierter Sohn Jesse (Joseph Cotton) sich auf die Seite der Eisenbahngesellschaft stellt, wird er aus der Familie verstoßen. Vorher hatte er sich um Pearl bemüht, doch jetzt ist sie der Zudringlichkeit seines Bruders Lewt (Gregory Peck) ausgeliefert. Zugleich angezogen wie abgestoßen kann Pearl dessen brachialem Macho-Charme nicht widerstehen. Kein Wunder, dass sie die Männer um den Verstand bringt, wenn ihre Bluse ab und zu von der Schulter rutscht. Als sie nicht willig ist, nimmt Lewt sie mit Gewalt. Daraus folgt eine Beziehung sado-masoschistischer Abhängigkeit. Zuerst erschießt Lewt den älteren Rancher, der sie heiraten will, dann räumt er seinen gesetzestreuen Bruder Jesse aus dem Weg. Doch das alles tut Pearls Leidenschaft für ihn keinen Abbruch. Beim finalen Showdown in der Wüste umarmen sie sich, tödlich getroffen.
Die amerikanische Filmwissenschaftlerin Elise M. Marubbio beschreibt Pearls erotisches Spannungsfeld "too sexual to be a proper wife, too dark to be a comfortable part of (white) society, and too passionate to be controlled with anything but violence".
Ganz folgerichtig erhielt der Film den Spitznamen „Lust in the Dust“. Es gab erhebliche Zensurauflagen, der Erzbischof von Los Angeles verteufelte das unmoralische Machwerk, Kinos im amerikanischen Süden weigerten sich den Film zu zeigen. Die katholische Filmkritik nannte den Film „inhaltlich höchst unerquicklich“. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wurde er ein großer Kassenerfolg, zu dem offensichtlich auch Martin Scorseses katholische Mutter beitrug.
Eine ganz andere Spielart weiblicher Unabhängigkeit verkörpert Katharine Hepburn, der eine Retrospektive mit einer Auswahl ihrer Filme von den 30er bis zu den 50er Jahren gewidmet war. Die Beschreibung „feminist, acrobate and lover“ hielt, was sie versprach, und zeigte Katharine Hepburn als Kinoikone und Feministin avant la lettre. Am liebsten trägt sie Hosen und wirkt ausgesprochen sportlich. Sie ist klug und schlagfertig, am Ende muss sie gezähmt werden, weil die Männer neben ihr sonst keine Chance haben.
Katharine Hepburn war nicht der typische Hollywood Star, der es aus kleinen Verhältnissen ganz nach oben geschafft hat. Sie wuchs in einer progressiven, kultivierten Familie in Hartford, Connecticut auf. Der Vater war Arzt, die Mutter engagierte sich für Frauenrechte. Katharine besuchte das renommierte Bryn Mawr College in Pennsylvania, wo sie ihren späteren Mann kennen lernte. Nach ersten Erfolgen auf dem Theater trennte sie sich, als sie nach Hollywood ging. Später hat sie nicht mehr geheiratet und behandelte ihr Privatleben sehr diskret. Sie war zwölfmal nominiert und gewann vier Oscars. Das American Film Institute wählte sie zur „größten weiblichen Filmlegende“.
„Silvia Scarlett“ (1935), ihr erster von zehn Filmen unter der Regie von George Cukor, kam in Italien unter dem bezeichnenden Titel „Il diavolo é femmina“ (Der Teufel ist eine Frau) ins Kino. Hepburn spielt Sylvia, eine Tochter, die sich nach dem Tod der Mutter mit ihrem Vater, der sein Geld beim Glückspiel verloren hat, nach England absetzt und um über die Grenze zu kommen, sich in einen Sohn, Sylvester, verwandelt. Demonstrativ schneidet sie sich die Haare ab und nimmt das Heft in die Hand. Unterwegs begegnen sie einem eleganten Betrüger, gespielt von Cary Grant, mit dem sie sich zusammentun. Als ihr genialer Plan schief geht, treten sie als eine Schauspieltruppe in Pierrot-Kostümen auf. Ein Szenenfoto mit Cary Grant und Katharine Hepburn in absurder Kostümierung fungierte in diesem Jahr als Plakatmotiv für das Festival. Die Geschichte ist relativ absurd und gewinnt ihren Reiz aus dem cross dressing von Katharine Hepburn, die sich zuerst in einen Mann und am Ende wieder in eine Frau verwandelt. Zwischendurch zeigt sie einen akrobatischen Handstand an den Ringen.
In „Bringing Up Baby“ (Leoparden küsst man nicht, 1938), Regie Howard Hawks, tut Katharine Hepburn alles, um Cary Grant als zerstreuten Paläontologen ins Chaos zu stürzen. Sie wird nicht müde, ihm zu sagen, dass er ohne Brille wirklich sexy aussehe. Beim Versuch, Baby, einen zahmen Leoparden, von New York nach Connecticut zu bringen, ergeben sich zahlreiche Gelegenheiten für Slapstick-Momente sowie messerscharfe Dialoge zwischen den beiden Protagonisten. In einer Szene wird Cary Grant Opfer von cross dressing, als er in einem gefiederten Negligé auftreten muss, weil sie seine Kleidung in die Reinigung gegeben hat. Weshalb der Film heute als frühes Beispiel für queere Momente im Hollywood Kino angeführt wird. Allerdings war „Bringing Up Baby“ trotz positiver Kritiken kein Erfolg an der Kinokasse, was Katharine Hepburns schlechten Ruf verstärkte, „box office poison“ (Kassengift) zu sein.
Ihre Reputation als intellektuell überlegene, unabhängige Frau kann sie grandios ausspielen in „Woman of the Year“ (Die Frau, von der man spricht, Regie: George Stevens, 1942). Katharine Hepburn ist Tess Harding, eine erfolgreiche kosmopolitische Journalistin, inspiriert von der berühmten Auslandskorrespondentin Dorothy Thompson. Baseball hält sie in Zeiten des Kriegs für überflüssig, was den Sportreporter Sam Craig (Spencer Tracy) in Rage bringt. Wie es sich für eine romantic comedy gehörte, geraten sich die beiden zuerst in die Haare, bevor sie schließlich doch zusammenkommen. Ursprünglich endet der Film damit, dass Spencer Tracy Fremdsprachen lernt, um seine intellektuellen Defizite auszugleichen. Doch das Ende gefiel weder dem Studio Boss Louis B. Mayer noch dem Produzenten Joseph L. Mankiewicz. Sie fanden die Figur von Katharine Hepburn zu stark und zu dominant. Sie musste ihre Überlegenheit verlieren. Das neue Ende sieht jetzt so aus, dass sie versucht, für Spencer Tracy ein Frühstück zu bereiten und dabei kläglich scheitert. Die Pancakes quellen über, der Speck verbrennt in der Pfanne. Es ist eine Qual, mitanzusehen, wie sie als unfähige Hausfrau vorgeführt wird. Für Hepburn und Tracy war der Film der Auftakt weiterer gemeinsamer Projekte und der Beginn ihrer lebenslangen Liebesgeschichte.
In „Adam’s Rib“ (Ehekrieg, 1949), wieder unter der Regie von George Cukor, spielen die beiden ein Anwaltspaar, das sich bei einem Prozess als Gegner gegenübersteht. Amanda (Katharine Hepburn) verteidigt eine Hausfrau, die erfolglos versucht hat, ihren gewalttätigen Ehemann und dessen Geliebte zu erschießen. Ihr Mann Adam (Spencer Tracy) wird als Staatsanwalt mit der Anklage beauftragt. Das kann nicht gut gehen, und im Laufe des Prozesses droht ihre Ehe zu scheitern. Katharine Hepburn hält ein großartiges Plädoyer für Frauenrechte, während Spencer Tracy hilflos zuschaut und ihr vorwirft, sich über die Justiz lustig zu machen.
“Of course, I have an angular face, an angular body, and, I suppose, an angular personality which jabs into people” (natürlich habe ich ein kantiges Gesicht, einen kantigen Körper und, wie ich annehme, eine kantige Persönlichkeit, die die Menschen aufregt), sagte sie über sich selbst. Diese kantige, unangepasste Persönlichkeit, die in all ihren Rollen durchscheint, würde man im Hollywood der 30er und 40er Jahre kaum erwarten. Sie machte Katharine Hepburn zu einer Frau, die ihrer Zeit voraus war.
Männer und Krieg
Eine bemerkenswerte Retrospektive war dem amerikanischen Regisseur Lewis Milestone gewidmet. Bekannt ist er vor allem durch seine Verfilmung von Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“. (All Quiet on the Western Front, 1929). Es war das Ende der Stummfilm-Ära und der Film wurde in zwei Fassungen gedreht, einmal mit Dialogen einmal stumm mit Zwischentiteln. In Bologna wurde die jetzt mit einer avantgardistischen Tonspur ausgestattete, ursprünglich stumme Fassung gezeigt. Man hört die Geräusche des Kriegs, die einschlagenden Granaten und das Trommelfeuer der Artillerie wie auch die deutschen Marschlieder. Milestone nimmt sich viel Zeit für Vorgeschichte der jungen Rekruten, deren Latein- und Griechischlehrer ihnen vorschwärmt, wie edel es sei, für das Vaterland zu sterben. Die ganze Klasse meldet sich freiwillig an die Front. Bei der militärischen Grundausbildung erleben sie erste Frustrationen, als sie von einem Feldwebel schikaniert werden, den sie als harmlosen Briefträger kannten.
Der Einsatz an der Front ist alles andere als heroisch. Die Soldaten werden von Nässe und Kälte gequält, im Schützengraben wimmelt es von Ratten und die Verpflegung ist erbärmlich. Einer nach dem anderen sterben die jungen Rekruten, bis nur noch der junge Paul Bäumer (Lew Ayres) und der erfahrene Frontsoldat Katczinski (Louis Wolheim) übrigbleiben. Doch auch sie werden nicht überleben.
In Deutschland traf der Film auf wütende Reaktionen aus dem rechten Lager. Goebbels organisierte eine gezielte Kampagne, bei der SA-Trupps die Vorführungen mit Stinkbomben und Niespulver sprengten. Ende 1930 wurde der Film verboten und mit erheblichen Kürzungen wieder freigegeben, bis er 1933 endgültig der NS-Zensur zum Opfer fiel. Aber auch in Italien und Frankreich war er erst in den 60er Jahren zu sehen, in Österreich erst 1980(!).
Lewis Milestone, der 1895 als Lew Milstein in Moldawien geboren wurde und 1913 in die USA kam, hatte im 1. Weltkrieg als Kameramann gearbeitet und kannte die Realität des Stellungskriegs an der Westfront. Er drehte mit mobilen Kameras und verwendete einen innovativen Kamerakran, um das Geschehen auf dem Schlachtfeld besser einzufangen. Bis heute beeindruckt der Film durch seinen präzisen Realismus und die konsequente Desillusionierung der Figuren. Dabei bleibt er sehr viel näher an Remarques Romanvorlage als die Oscar-prämierte Neuverfilmung von Edward Berger.
Der Krieg ist ein zentrales Thema in den Filmen von Lewis Milestone. „A Walk in the Sun“ (Landung in Salerno, 1945) kam unmittelbar nach Kriegsende ins Kino und basiert auf einem Buch von Norman Brown, das Robert Rossen als Vorlage für sein Drehbuch benutzte. Im September 1943 landet eine amerikanische Infanterieeinheit am Golf von Salerno, südlich von Neapel. Sie sollen ein Bauernhaus einnehmen und eine Brücke sprengen, was ihnen unter hohen Verlusten auch gelingt. Von einem ‚Spaziergang in der Sonne‘ kann, wie der ironische Titel andeutet, keine Rede sein. Der Film konzentriert sich ganz auf die Gruppe der Soldaten, die deutschen Gegner tauchen nur schemenhaft auf. Es gab viel Lob für den dokumentarischen Realismus, während James Agee die artifiziellen Dialoge kritisierte. Das Londoner Magazin Time Out spricht von “One of the best movies to have come out of World War II” und hebt besonders die Darstellung von “Angst und Langeweile” hervor.
Zwei Jahre zuvor drehte Lewis Milestone mit „Edge of Darkness“ (Aufstand in Trollness, 1943) und „The North Star“ zwei außergewöhnliche Kriegsfilme, in denen die deutsche Armee als mörderischer Aggressor präsent ist. „Edge of Darkness“ spielt in Norwegen unter deutscher Besatzung. Ein Fischerdorf verweigert die Kollaboration mit den Deutschen, wobei die Warner-Stars Errol Flynn und Ann Sheridan als Anführer des Widerstands agieren. Allmählich gelingt es ihnen, die zuerst zögernde Dorfbevölkerung zu überzeugen. Mit Hilfe geschmuggelter englischer Waffen wagen sie unter hohen Verlusten den Aufstand gegen die militärische Besatzung. Trotz der differenziert gezeichneten einzelnen Figuren liegt die Betonung auf dem kollektiven Widerstand. „Edge of Darkness“ ist ein eindrucksvolles Beispiel für ein antifaschistisches Kino, das sich in den Kriegsjahren in Hollywood artikulieren konnte.
Ein weiteres Beispiel in Milestones Filmographie ist „North Star“, der das idealisierte Bild eines ukrainischen Dorfes vor dem deutschen Überfall 1942 zeichnet. Singend und tanzend ziehen die Bauern der landwirtschaftlichen Kolchose aufs Feld. Das ländliche Paradies mit seinen glücklichen Sowjet-Menschen wird jäh zerstört, als plötzlich der deutsche Bombenhagel einsetzt. Die Kinder des Dorfes werden zu Bluttransfusionen gezwungen, damit verletzte Nazikämpfer mit dem Blut versorgt werden können. Einer der deutschen Ärzte wird von Erich von Stroheim gespielt, der als teutonische Hassfigur brilliert. Sein Gegenspieler ist der aufrechte Arzt des Dorfes, Dr. Kurin (Walter Huston), der in Leipzig studiert hat und in einem Akt heroischen Widerstands Stroheim und seinen Kollegen erschießt. Es kommt zu einem Aufstand gegen die deutschen Besatzer, bei dem es einer Partisanentruppe, die sich im Wald versteckt hatte, gelingt, das Dorf zu befreien.
Bei der Premiere gab es kontroverse Reaktionen. Der Kritiker des ‚New York Mirror‘ lobte „The North Star“ als „eines der lebendigsten Kriegsdramen“, während der Chefredakteur der Zeitung von „reiner bolschewistischer Propaganda“ sprach, die „nicht offensichtlicher sein könnte, selbst wenn sie von Stalin bezahlt wäre“. Kein Wunder, dass die Drehbuchautorin Lillian Hellman und Regisseur Lewis Milestone im Klima des Kalten Kriegs als angebliche kommunistische Sympathisanten vor den ‚Ausschuss für Unamerikanische Umtriebe‘ zitiert wurden. 1957 entstand eine um 30 Minuten gekürzte Fassung, in der der idyllische Anfang wegfiel und ein warnender Hinweis auf die Übel des Kommunismus hinzugefügt wurde.
1948 verfilmte Milestone mit „Arch of Triumph“ (Triumphbogen) einen weiteren Roman von Erich Maria Remarque. Schauplatz ist Paris während der deutschen Besatzung. Charles Boyer spielt den österreichischen Arzt Dr. Ravic, der als illegaler Flüchtling nach Frankreich gekommen ist. Hier trifft er auf Joan Madou (Ingrid Bergman), mit der er eine leidenschaftliche Affäre beginnt. „Arch of Triumph“ ist ein pessimistisches Melodrama, das die verzweifelte Situation der politischen Flüchtlinge in eindringlichen schwarz/weiß Bildern einfängt. Die Szenerie ist ähnlich wie bei dem Klassiker „Casablanca", allerdings gibt es weniger humoristische Einlagen, die Figur von Ingrid Bergman in „Arch de Triumph“ ist weniger heroisch als ihre Rolle in „Casablanca“, die Figuren sind gebrochener, die Atmosphäre düsterer.
Die Retrospektive von Lewis Milestone war sicher ein Höhepunkt im Programm von Bologna und spiegelt ziemlich gut den Geist des Festivals wider. Es geht darum, vergessene oder unterschätzte Filme einem heutigen Publikum zu präsentieren und damit filmhistorisches Wissen zu vermitteln. Und gleichzeitig geht es auch darum, eine lebendige Diskussion über den filmhistorischen Kanon anzustoßen.
Alle Fotos: © Cinema ritrovato Bologna 2025)