Ich erinnere mich wie es war, als vor fast 30 Jahren zwei unbekannte Brüder aus Lüttich, Jean-Pierre und Luc Dardenne, in der Reihe Quinzaine des réalisateurs ihren Film „La promesse“ (Das Versprechen, 1996) zeigten. Eine Schockwelle ging durch Cannes; es war wie die Entdeckung eines neuen cineastischen Kontinents. Ihre dokumentarisch basierte und zugleich künstlerisch ausgefeilte Form eines sozial engagierten Kinos hat längst Schule gemacht und Generationen von Filmemachern beeinflusst. 

Inzwischen sind die Frères Dardenne in Cannes zu einer Institution geworden und haben alles gewonnen, was man auf dem Festival gewinnen kann. Preise für die beste Regie, das beste Drehbuch sowie den Großen Preis der Jury, zweimal sogar die Goldene Palme, mit „Rosetta“ (1999) sowie „L’enfant“ (Das Kind, 2005).  Mit „Jeunes mères“ (Junge Mütter) sind sie zum neunten Mal im Wettbewerb, und manche Kritiker sprachen schon von einer dritten Goldenen Palme. Nicht ohne Grund, denn ihr neuer Film über minderjährige Mütter war am vorletzten Tag einer der Höhepunkte des diesjährigen Festivals. Am Ende wurden die belgischen Regisseure für das beste Drehbuch ausgezeichnet und gewannen den Preis der Ökumenischen Jury. 

Die Mädchen Jessica, Perla, Julie, Naïma und Ariane sind minderjährig schwanger geworden. Sie kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und leben gemeinsam in einer sozialen Einrichtung in der Nähe von Lüttich. Abwechselnd zeichnet der Film die individuellen Geschichten der Mädchen, die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben. 

Perlas (Lucie Laruelle) Freund Robin ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden und hat weder Interesse an ihr noch an ihrem gemeinsamen Baby. Jessica (Babette Verbeek) ist schwanger und verzweifelt auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie nie kennengelernt hat. Ariane (Janaïna Halloy Fokan) will ihr Kind zur Adoption bei einer gut situierten Familie freigeben und unter keinen Umständen wieder zu ihrer alkoholabhängigen Mutter ziehen, die schon ein Zimmer für das Enkelkind eingerichtet hat. 

Nur Julie (Elsa Houben), die lange drogenabhängig war, möchte mit Dylan (Jef Jacobs), dem Vater ihres Kindes, eine Familie aufbauen. Im geschützten Raum der „Maison maternelle“ finden die Mädchen Halt und Unterstützung. Ob sie ihre Babies behalten oder sich zur Adoption entschließen, diese Entscheidung liegt ganz bei ihnen selbst. Als Zuschauer erleben wir, wie sie nach vielen Krisen einen Weg finden und ein Stück Autonomie für sich entwickeln.

Was bei den Dardenne-Brüdern wie ein spontaner Dokumentarfilm aussieht, ist das Ergebnis akribischer Vorbereitung, ihr dokumentarischer Realismus basiert auf einem aufwendigen Transformationsprozess. „Wie wollen nicht einfach die Realität abbilden“, sagt Luc Dardenne. Was auf der Leinwand so beiläufig aussieht, ist eine künstlerische Verdichtung, die den Figuren und ihrem Milieu gerecht wird. „Wir erzählen fünf Geschichten von minderjährigen Müttern, wir schauen auf ihr soziales Umfeld und auf die oft dysfunktionalen Familien, aus denen sie kommen“ (Luc Dardenne). Was dabei entsteht, ist ein Film voller Empathie, der nie sentimental wird und selbst hartgesottenen Kritikern Tränen in die Augen treibt.

Der „Hollywood Reporter“ sprach von einer „teutonischen Welle an der Croisette“, die angesichts von drei deutschen Filmen auf das Festival zurolle und ihren Höhepunkt mit Christian Petzolds „Miroirs No. 3“ erreichte. Vor seiner Premiere in der Reihe „Quinzaine des cinéastes“ wurde der Berliner Regisseur vom französischen Publikum mit großem Beifall begrüßt und anschließend mit Ovationen gefeiert. Man hat das Gefühl, es war längst überfällig, dass Christian Petzold mit einem Film in Cannes ankommt. Sein neues Werk ist ein überzeugender Film, einer der besten in Petzolds Filmographie. Was sofort auffällt, ist das warme Licht, das sein Kameramann Hans Fromm gesetzt hat, und der freundliche Blick auf die Figuren. 

Dabei beginnt die Geschichte mit einer Tragödie. Bei einem Autounfall im ländlichen Brandenburg kommt der Freund der Musikstudentin Laura (Paula Beer) um, während sie beinahe unverletzt überlebt. Gefunden wird sie von Betty (Barbara Auer), die Laura nach dem Unfall bei sich aufnimmt und versorgt. Doch wie wir allmählich ahnen, sind ihre Motive nicht ganz uneigennützig. Mysteriös ist auch der Umstand, dass sie getrennt von ihrem Mann Richard (Matthias Brandt) und ihrem Sohn Max (Enno Trebs) lebt, die gemeinsam eine Autowerkstatt betreiben. 

Paula Beer wirkt leicht somnambul, comme toujours bei Petzold, was angesichts des Unfalltraumas nachvollziehbar ist. Das Ensemble ist exzellent aufeinander eingespielt, lebendiger als man es sonst bei Petzold gewohnt ist. Als ob der Meister der kühlen Inszenierung seinen Schauspielern diesmal mehr Herzenswärme gestattet hätte. Es ist schön, Barbara Auer wieder in einer tragenden Kinorolle zu sehen. Laura kocht Königsberger Klopse, backt Pflaumenkuchen, spielt Klavier und taut so die eingefrorenen Beziehungen wieder auf. Denn es gibt ein dunkles Geheimnis, das die Familie auseinandergerissen hat. 

Wie es dank der Anwesenheit von Laura zu einer Wiederannäherung kommt, das ist spannend zu beobachten. Nur dass sich ausgerechnet Matthias Brandt um die Bremsbeläge eines Wagens kümmern soll, scheint nicht ganz glaubwürdig. In seinem Auftreten wirkt er eher wie der Verleger aus Petzolds letztem Film „Roter Himmel“. Der Titel „Miroirs No. 3“ bezieht sich auf ein Stück aus einem Klavierzyklus Maurice Ravels. 

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