Die Deutschen können sich dieses Jahr in Cannes nicht beklagen, sind sie doch mit drei Filmen im Festival vertreten. „Sound of Falling“, der zweite Film von Mascha Schilinski, eröffnet sogar den Wettbewerb. In der Reihe „Quinzaine des Cinéastes“ folgt Christian Petzold mit „Miroirs No. 3“ und in „Cannes Premiere“ zeigt Fatih Akin seine Romanverfilmung „Amrum“.

„Sound of Falling“ illustriert auf perfekte Weise, was ein deutscher Film mitbringen muss, um in den Wettbewerb von Cannes zu kommen. Hilfreich ist ein französischer Coproduzent und Weltvertrieb (MK 2), sowie ein französischer Verleih (Diaphana). Böse Zungen sprechen deshalb von Cannes auch als dem ‘Festival International du Cinéma Francais‘. Ohne französische Beteiligung hat man hier kaum eine Chance. 

Aber zurück zu Mascha Schelinskis Film, der in Zusammenarbeit mit dem Kleinen Fernsehspiel im ZDF entstanden ist und wie ein somnambuler Gang durch 100 Jahre deutscher Geschichte wirkt. Die Jahre vergehen, aber der Hof bleibt bestehen, so könnte man die Geschichte auf eine kurze Formel bringen.

Die Berliner Schule als Traum. Lange, bedeutungsvolle Einstellungen, kaum emotionale Tiefe und bloß keine dramatische Zuspitzung. Allenfalls im Soundtrack, der schicksalhaft dräuend zu einem akustischen Tsunami anschwillt. Dreh- und Angelpunkt ist ein Bauernhof in Brandenburg. Die erste Episode spielt am Vorabend des 1. Weltkriegs, was sich durch das Auftauchen wilhelminischer Offiziere mit Pickelhaube erschließt. Offensichtlich sind sie auf der Suche nach Rekruten. Um zu verhindern, dass Fritz eingezogen wird, wirft man ihn vom Heuboden und amputiert seinen linken Unterschenkel. Seitdem leidet er unter Phantomschmerzen, die die Magd Trudi mit masturbatorischer Hingabe beruhigen kann. Rätselhafterweise spricht man plattdeutsch, was ziemlich artifiziell klingt und auch deutsche Zuschauer zum Lesen der französischen/englischen Untertitel zwingt. Eine zentrale Figur ist die kleine Alma, mit deren Augen wir das Geschehen auf dem Hof beobachten. Die Dialoge oszillieren zwischen Gedankenschwere und Banalität. Eine freudlose Düsternis liegt über der Szenerie. Der dörfliche Schauplatz der Vorkriegszeit erinnert an „Das weiße Band“. Doch Hanekes Studie über die Wurzeln des deutschen Faschismus wirkt dagegen fast wie eine ländliche Idylle. 

Wenn man nicht höllisch aufpasst, entgeht einem die zweite Zeitebene, die etwa 20 bis 30 Jahre später angesiedelt ist. Onkel Fritz ist erkennbar älter geworden. Jetzt ist es Erika, die seine Krücken ausprobiert und sich um die erotische Pflege kümmert. Explizite Hinweise auf den Nationalsozialismus sind nicht zu entdecken. 

Die dritte Zeitebene spielt offensichtlich in der DDR der 70er Jahre. Die Frauen stehen mit Kittelschürze in der Küche, während die Männer im Netzunterhand den Mähdrescher fahren. Die Tochter setzt sich in die nahegelegene Disko ab, man spricht inzwischen hochdeutsch oder berlinert gelegentlich. Aus dem großbäuerlichen Hof ist offenbar eine LPG geworden, es scheint verwandtschaftliche Anknüpfungen an die Figuren des Anfangs zu geben. Der Fluss, der in allen Episoden eine zentrale Rolle spielt, markiert die Zonengrenze zur BRD. 

Der Epilog könnte Anfang der 2000er Jahre spielen. Eine junge Familie ist von Berlin aufs Land gezogen und richtet sich in dem halb verfallenen Hof ein. Sind die Kinder Wiedergänger früherer Generationen? Wer weiß das schon. Die Mutter zertrümmert den schönen alten Kachelofen mit einem Vorschlaghammer und man bestellt zwei Container, um den Schutt wegzuschaffen. Demonstrativ wird die Vergangenheit entsorgt. 

Wenn das alle rätselhaft klingt, entspricht es dem Charakter des Films, der bedeutungsvolle Großaufnahmen und Landschaftsbilder wie Tableaus arrangiert oder in Unterwasseraufnahmen schwelgt, die man auch als Videoinstallationen im Museum zeigen könnte. Mit knapp zweieinhalb Stunden ist „Sound of Falling“ (warum ein englischer Titel?) arg lang geraten. Ob der Film Zuschauer ins Kino locken wird, wage ich zu bezweifeln, aber die intellektuelle Kritik aus Deutschland ist begeistert von der somnambul elliptischen Form, während sich die Franzosen sich nur mäßig beeindruckt zeigen.

In der Reihe „Cannes Premiere“ wurde der zweite deutsche Film, Fatih Akins „Amrum“, gezeigt. Er basiert auf dem gleichnamigen autobiographischen Roman des Hamburger Regisseurs Hark Bohm, der während des Kriegs mit seiner Mutter auf die Nordseeinsel verschickt wurde. Die Geschichte setzt ein in den letzten Wochen des Kriegs, Lebensmittel sind knapp, und der 12jährige Nanning, Bohms alter ego, hilft der Bäuerin Tessa (Diane Krüger) auf dem Kartoffelacker. Wer nach dem Trailer den deutsch-amerikanischen Star in einer tragenden Rolle erwartet hat, wird enttäuscht. Diane Krüger hat als Nebenfigur nur wenige Szenen. Im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen dem Sohn und seiner Nazi-treuen Mutter Hille (Laura Tonke). Nachdem der Führer tot ist, will sie nichts mehr essen, höchstens noch ein Weißbrot mit Butter und Honig. Nanning, als Pimpf im Jungvolk auch auf den Geist der Partei eingeschworen, ist den Rest des Films damit beschäftigt, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Bis er schließlich lernt, dass mit Krieg und Vaterland doch nicht alles so war, wie seine Mutter es ihm beigebracht hat.

„Amrum“ wirkt wie eine Unterrichtsstunde in Geschichte, in der uns noch einmal erklärt wird, wie es damals war so mit den Nazis und dem Kriegsende. Streckenweise hat man den Eindruck, dass sich die Schauspieler mehr mit den Zuschauern unterhalten als untereinander. Man kann sich „Amrum“ gut im Schulunterricht vorstellen. Die Kostüme sind perfekt ausgewählt, die Bauern sprechen plattdeutsch wie in alten Zeiten, um dann einen Satz auf Hochdeutsch nachzuschieben, damit die Zuschauer nicht frustriert werden. Cineastisch bleibt der Film bieder und konventionell, es gibt keine Überraschungen, weder in der Geschichte noch in der Entwicklung der Figuren. In seiner didaktischen Machart wirkt „Amrum“ wie ein gut gemachtes Fernsehspiel. Insofern entspricht er ganz dem Geist seines Autors Hark Bohm, der in der letzten Einstellung einen persönlichen Auftritt hat und gedankenverloren aufs Meer schaut. Was ihn ins Programm von Cannes verschlagen hat, bleibt ein Rätsel. Vielleicht war es die Aussicht auf Diane Krüger auf dem Roten Teppich.

Wie ein Kontrastprogramm wirkt dagegen „Enzo“, der Eröffnungsfilm der Quinzaine des Cinéastes (ehemals Quinzaine des Réalisateurs). Laurent Cantet hatte den Film vorbereitet, als er im vergangenen Jahr überraschend starb. Sein Freund und Kollege Robin Campillo hat das Projekt realisiert („Un film de Laurent Cantet – Réalisé par Robin Campillo“ liest man im Vorspann). Der 16jährige Enzo kommt aus einer wohl situierten Familie. Sein Vater (der Italiener Pierfrancesco Favino mit perfektem Französisch) ist Mathematik-Dozent, die Mutter (Elodie Bouchez) Ingenieurin. Aber Enzo hat keine Lust auf die Schule und fängt eine Lehre auf dem Bau an. Hier lernt er den Ukrainer Vladimir kennen. Maksym Slivinskyi spielt ihn mit einer physischen Präsenz, die an den jungen Marlon Brando erinnert. Kein Wunder, dass Enzo von seinem maskulinen Charisma so begeistert ist, und (vergeblich) auf eine homoerotische Beziehung hofft. Als seine Kollegen erfahren, dass Enzo mit seinen gut betuchten Eltern in einem eleganten Haus mit Pool wohnt, können sie nicht fassen, dass er auf dem Bau arbeiten will. „An deiner Stelle würde ich gar nichts tun und vom Geld meiner Eltern leben“, meint Vladimir.

Schauplatz ist La Ciotat, eine industriell geprägte Stadt zwischen Marseille und Toulon. Hier hatte Laurent Cantet schon seine Coming-of-Age Studie „L’atelier“ (2017) angesiedelt. Beiläufig, aber nicht aufdringlich markiert der Film den Klassenunterschied zwischen der Akademikerfamilie und den Arbeitern an der sonnendurchfluteten Mittelmeerküste. Wie auch den Generationenkonflikt zwischen den Eltern, deren älterer Sohn ihre intellektuellen Erwartungen erfüllt, während Enzo sich von all dem distanziert.

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