Wer Augen hat zu sehen, der sehe!

Bericht zu den 49. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen. Von Waltraud Verlaguet

Das Kurzfilmfestival in Oberhausen, das älteste Europas, hat ein enorm vielseitiges Programm gezeigt. Vom manchmal etwas zu langen Dokumentarfilm über traurige oder lustige Geschichten bis hin zu experimentellen Formen waren alle Genres aller Länder in den verschiedenen Wettbewerben vertreten. Alle Filme zu erzählen und zu analysieren ergäbe ein facettenreiches Bild unserer Welt, denn der Kurzfilm ist ein Labor der bildlichen Darstellung, eine Art Momentaufnahme der Probleme des Augenblicks, sehr viel mehr noch als dies beim Langfilm der Fall ist, der der Entwicklung unserer Gesellschaft immer ein wenig hinterherhinkt. Werner Schneider-Quindeau verglich während seines Vortrags anlässlich des Kirchenempfangs den Kurzfilm mit den Gleichnissen Jesu: in seiner Kürze ermöglicht er es uns, eine Pointe, die unsere gewohnte Sichtweise in Frage stellt,  unmittelbar zu erfassen.

In der nachfolgenden Diskussion wurde sichtbar, dass dieser Vergleich bei den Zuhörern ein gewisses Unbehagen hervorrief, da wir die Tendenz haben, den biblischen Text zu sakralisieren. Aber vergessen wir nicht, dass Jesus seine Beispiele seiner Umwelt entnommen hat, dem täglichen Leben. In gleicher Weise sind wir dazu aufgerufen, unsere Welt aufmerksam zu beobachten, um in ihr die gute Nachricht wirksam werden zu lassen: die offensichtliche Realität spricht nicht das letzte Wort über unsere Geschichte. Das Evangelium lässt sich nicht in einer aseptischen Überwelt umsetzen, sondern hier und jetzt. An einen fleischgewordenen Gott glauben heißt diese Welt ernst nehmen, ihr nicht entfliehen wollen, sondern in ihr stehen, sich daran reiben, sie analysieren, sie verstehen, um ihre Determinismen in Frage zu stellen durch das an uns gerichtete Wort. Jesus sagte: "Wer Ohren hat zu hören, der höre!" Das Kurzfilmfestival ruft uns in gleicher Weise auf: "Wer Augen hat zu sehen, der sehe!"

Und was sehen wir ? Viele Beiträge beschäftigten sich mit der Kriegsproblematik, die auch in der Podiumsdiskussion am Eröffnungsabend sehr präsent war. Die Frage der politischen Verantwortung des Filmemachers sowie der Kunst im allgemeinen stand im Zentrum der Debatte. In der derzeitigen politischen Situation ist das nicht verwunderlich. Erstaunlicher ist dabei der Standort der Religion. Viele Filme beziehen sich auf sie, entweder explizit oder en passant. Während der Podiumsdiskussion schien die Verbindung Religion - Politik fast zwingend. Um sie offen zu denunzieren.

Um was geht es dabei ? Ohne auf die Barthsche Unterscheidung zwischen Religion und Glauben einzugehen, muss man sich doch fragen, um welchen Gott es sich handelt, wenn man "Religion" sagt. Nehmen wir zum Beispiel den Film Dos hermanos (Zwei Brüder) von Juan Manuel Echavarria aus Kolumbien (aus der Reihe "Re<lokal>isierung"). Man sieht nacheinander zwei Brüder in Nahaufnahme. Jeder singt ein Lied, in dem er Gott dankt, ihn von einem Massaker errettet zu haben. In ihrer emotionalen Dichte, die noch durch die Einfachheit der Form unterstrichen wird, ähneln diese Gebete den Psalmen. Und wie bei etlichen Psalmen müssen wir uns fragen : was ist das für ein Gott, der den einen errettet und den andern sterben lässt? Denn der rettende Gott impliziert seine Verantwortung für den Tod der andern. Jedes Kind, das unschuldig stirbt, macht die Monstrosität eines solchen Gottesbildes deutlich. Der christliche Gott ist kein überweltlicher Marionettenspieler, er ist gekommen, das menschliche Leiden bis zum Ende mit uns zu teilen.

Natürlich ist die Reaktion verständlich. Alle bitten wir um Schutz, alle danken wir für das, was uns Gutes widerfährt – aber wir dürfen dabei nicht stehen bleiben. Wir müssen immer von Neuem unsere Gottesbilder in Frage stellen, um in ihnen die Projektionen unseres eigenen Machtstrebens zu erkennen und abzubauen ; um in derselben Bewegung die menschliche Verantwortung für die Schreckenstaten unserer Zeit aufzuzeigen. Und da wären wir wieder bei der Politik.

Natürlich hängen Religion und Politik zusammen. Aber nicht in dem Sinn, dass religiöse Anführer die Macht ergriffen und das Weltgeschehen bestimmten. Sondern als Dialektik zwischen Realität und Wahrheit. Nehmen wir das Beispiel der Menschenrechte : ich sehe, dass die Menschen ungleich sind. Ich glaube, im Sinn von: ich behaupte als wahr, dass die Menschen gleich sind. Ich muss daher für diese Gleichheit, die nicht natürlich gegeben ist, kämpfen. Der Glaube an eine Wahrheit, die die Realität der Welt transzendiert, gibt den Anstoß für deren Infragestellung. Das hieße: Politik im guten Sinn des Wortes zu betreiben.

Nur, solange man die Religion mit einer Anzahl von Glaubenssätzen verwechselt, die dazu da sind, einen Status quo zu erhalten, erzielt man das genaue Gegenteil. Die Beziehung zwischen Kunstschaffen, Religion und Politik ist organisch und wäre es wert, gründlich diskutiert zu werden. Vielleicht anlässlich des nächsten Festivals in Oberhausen ?