Venedig 2015

Festivalbericht von Heike Kühn
Heart of a Dog

Laurie Anderson: Heart of a Dog (© Arsenal Filmverleih)


Ein Filmfestival. So viele Tode. So viel Leben. So viel zwischen Anfang und Ende. Ist die Geburt ein Anfang und wenn sie das ist, für wen? „Dies ist mein Traum-Körper“, sagt die Performance-Künstlerin und Musikerin Laurie Anderson zu Beginn ihres Films Heart of a Dog – und ihr Traum-Selbst kommentiert,  wie ihr Traum-Körper ihren Hund Lolabelle gebiert. Der Traum sieht aus wie ein schwarz-weißer-Animationsfilm, in dem Gedankenfetzen der Träumenden, die selbstverständliche Geburt eines Hundes durch eine Künstlerin und die Liebe zu diesem Neugeborenen durcheinanderwirbeln. Oder ist der Animationsfilm Andersons Traum? Wie verfilmt man Träume und wie sprengt man Begriffe so auf, dass ein Leben Raum darin hat?

Laurie Anderson hat als Bildhauerin, Tonsetzerin und Ton-Auseinander-Setzerin, Collagistin von Wörtern und Lauten, Gemälden und Gesten Preise und Stipendien gewonnen. Darunter so denkwürdige wie die erste Auszeichnung als artist-in-residence, die die NASA 2002 vergab und die Andersons Solo-Performance „The End of the Moon“ hervorbrachte.  Und auch dies ist typisch für die Art und Weise, wie sie das Innerste nach außen kehrt: Für die Weltausstellung 2005 im japanischen Aichi entwarf sie einen Film mit dem Titel  „Hidden Inside Mountains“.

Andere mögen Filme drehen, Anderson dreht an ihnen. Ihr ureigenster künstlerischer Impuls sei das Geschichtenerzählen, sagt sie. Und schon kann der Betrachter dieses eine Wort nicht mehr benutzen, das so oft mit dem Filmemachen gleichgesetzt wird. Die REALISIERUNG eines Films, das ist für Anderson so undenkbar wie die Realisierung eines Lebens. Plötzlich, beim Sichten der Super-Acht-Filme aus ihrer Kindheit, die ihr Bruder ihr eigens für die Produktion von Heart of a Dog zugeschickt hat, wird die Künstlerin von ihrer Biographie eingeholt. Da ist der See, schwarz-weiß wie ein japanischer Rachegeist, das Eis, auf dem die wesentlich jüngeren Zwillingsbrüder herumtollen. Da ist die Erinnerung, dass das Eis brach und einem der Brüder beinah den Tod brachte. Anderson ist wieder der Teenager, der ins Wasser springt, den schon Leblosen unter dem Eis findet und durch den klaffenden Riss zurück in die Welt schiebt. Noch eine unwahrscheinliche Geburt. Das tropfnasse Mädchen, das den Bruder reanimiert und nach Hause bringt, wird von der  Mutter angebrüllt, weil es den Unfall nicht verhindert hat. Ist das auf dem gealterten Celluloid zu sehen? Nein. Aber so, wie die Super-Acht-Fundstücke aus ihrer Kindheit im Mittleren Westen im Film ihres Lebens aufgehen, entsteht ein gespenstischer Eindruck: Nie hat die Mutter die Tochter geliebt. Was halten wir für real, wenn wir unsere Geschichte erzählen?


Heart of a Dog ist eine Liebeserklärung an den Terrier Lolabelle, der im Dreh-Verlauf des auf Video, gelegentlich sogar mit der Handykamera erstellten Films erblindet und später stirbt. Doch uneigentlich ist die Liebe selbst der Mittelpunkt eines Films, der von der buddhistischen Übung, „sich traurig zu fühlen ohne traurig zu sein“, ebenso inspiriert ist wie von der Frage, welche Bilder wir uns von den anderen machen. Sind es die Überwachungsbilder, die seit dem Anschlag von 9/11 das amerikanische Dasein bestimmen? Oder Seelenbilder, die durch Kunst entstehen? Wie wollen wir leben? Nichts geringeres fragt dieser Film. Anderson antwortet mit Disziplin, Selbstreflektion, Genauigkeit und dem Zulassen längst überwunden geglaubter Schmerzen. Ein Wirbelsäulenbruch hat Laurie Anderson als Kind fünf Wochen lang in einer Kinderklinik ans Bett gefesselt. Sie erinnert sich an Ärzte, die ihr wortreich versichern, dass sie nie wieder werde laufen können. Dieselben Ärzte, aber auch Krankenschwestern, sagen keinen Ton, wenn sich über Nacht die Betten leeren. Die Laute sterbender Kinder und das Schweigen der Erwachsenen verdichten sich in ihrem Gedächtnis zur Heimatkunde: Wo der Tod verdrängt wird, kann kein Bild vom Leben entstehen. Anderson heilte sich selbst und lief der Diagnose ihrer Ärzte davon.

Jahre später geht die Künstlerin mit ihrem Hund den ganzen Weg. Mit dem Terrier kann Anderson beim gemeinsamen Wandern und Musizieren - Lolabelle lernt Klavier - über ihren verstorbenen Mann Lou Reed trauern, verbal und nonverbal, und ihn in ihrer Trauer rühmen. Erst als ihre Mutter im Sterben liegt, erfährt die Künstlerin ein Detail, das ihr Selbstwertgefühl verändert. An dem Tag, an dem Anderson dem kleinen Bruder das Leben rettete, wollte die Mutter sie nicht rügen. Sie wusste nur nicht, wie man jemanden lobt. Ein Missverständnis, geboren durch einen Menschen, der sich nicht oder zu spät mitzuteilen wusste.


Seltsam, wie viele Filme des Festivaljahrgangs von 2015 diesen Mangel aufgreifen. Anomalisa von Charlie Kaufmann und Duke Johnson erzählt mit der Selbstverständlichkeit eines Spielfilmes, der lediglich die Form eines Animationsfilms nutzt, die Geschichte eines Mannes, der überall Masken entdeckt, wo andere Menschen vermuten. Er hat einen Ratgeber über Kundenbetreuung geschrieben, das ihn zum gefragten Vortragsredner gemacht hat: weil er andere besser zu machen verspricht. Sein Verkaufstalent ist recht besehen das Animationsprinzip der „realen“ Welt, die dieser Trickfilm subversiv „abbildet“. In dieser konsumorientierten, in einer wertlosen Zukunft angesiedelten Dystopie hat Selbstvermarktung alle Lebensräume besetzt, ob in der Managerschulung oder im Warenlager der Ehe.

Auf einem Kongress lernt der ebenso lebensmüde wie von Selbstekel zerfressene Protagonist zwei Frauen kennen. Während eine von ihnen umgehend  versucht, den berühmten Verkaufsstrategen in ihr Bett zu ziehen, fällt die andere durch Zurückhaltung auf. Lisa, so der Name der schüchternen Erscheinung, ist die letzte Liebende auf Erden. Lisas Haar verschleiert ihre Augen, ihr Blick ist gesenkt. Nur im trunkenen und überraschend uneitlen Gespräch mit dem Mann, der nicht länger seine Seele verkaufen will, kommt ihr Gesicht zum Vorschein. Es ist schön und von einer tiefen Narbe gespalten. Lisa ist zerrissen, doch wenn sie spricht, stimmt sie in Lobeshymnen an und meint, was sie sagt. Aus den glatten Larven der anderen, die sich buchstäblich alle gleich anhören, spricht nur Hohn und Spott. Letztlich wird auch Lisa von den Seelenlosen eingefangen. Die Narbe erweist sich als Riss, der bleibt, wenn man versucht, die Maske abzustreifen, die alle diese unheimlichen Spielfiguren tragen und ihr Gesicht nennen. Der Gesichtsverlust ist in dieser bitteren Absage an die menschenfressende Konvention die einzige Chance, wieder als Individuum kenntlich zu werden. Doch der Filmtitel verrät bereits, dass Lisa, die Liebende, als anormal gilt. Anomalisa geht nicht gut aus. Der Held kehrt in seine Ehe zurück und gilt fortan als verrückt, weil er Reichtum und Zynismus nicht für das Maßgebende hält.

Er habe, schreibt Vahid Jalilvand im Kommentar zu seinem Spielfilmdebut Wednesday, May9, viele Jahre lang in seinen Spiegel geschaut und Bitterkeit, ja, Kälte und Depression gefühlt. Wo war der Jalal, der er gerne wäre? Jalal ist ein Vorname, der im Iran gebräuchlich ist. Doch Vahid Jalilvand beschwert sich nicht über die Namensgebung seiner Eltern. Er vermisst bei sich einen Charakterzug. Jalal gehört zu den 99 Namen Allahs, der Hundertste umfasst sie alle. Die Namen jedoch sind Gottes Attribute, Jalal bedeutet Gerechtigkeit. Er lebe, so der Regisseur, der in seinem wunderbaren Debut auch als Schauspieler zu sehen ist, in einem Land, das Gott mit Fülle und Wohlstand gesegnet habe, doch würden viele Menschen darum betrogen. Sein Film sei zugleich Gesellschaftskritik und Lobeshymne,  gewidmet all jenen „Jalals“, die Menschlichkeit und Barmherzigkeit im Iran verteidigen.

Wie schwer, bisweilen gar aussichtlos dies ist, davon zeugen die drei Geschichten, die im Film zusammenfließen wie Wasserläufe in einem reißenden Fluss.


Der Protagonist mit dem progammatischen Vornamen sucht nach Gerechtigkeit, doch wessen Gerechtigkeit ist es? Jalal, ein mittelalter, verheirateter Mann in gesicherten, wenn auch nicht luxuriösen Verhältnissen, lobt über eine Anzeige in einer Tageszeitung eine Summe von 30.000.Toman aus, ca. 9.000 Us-Dollars, so ihm jemand nachweise, dass er zu Unrecht ins Elend geraten sei. Die Hilfesuchenden, die am Tag der angekündigten Wiedergutmachung, einem 9.Mai, vor dem Haus Jalals zusammenströmen, legen den Verkehr lahm. So zahlreich erscheinen sie, die Geplagten, Versehrten, Verkrüppelten und Gebeugten, die allein gelassenen Frauen und Alten, dass die Staatsgewalt in dem Menschenfreund einen Aufrührer vermutet. Jalal wird verhaftet und die Menge zerschlagen. Doch eine Idee, die in der Welt ist, ist so leicht nicht aus den Menschen herauszuprügeln. Wenn er nachweisen könne, dass er tatsächlich eine barmherzige Tat zu Ehren Allahs plane, soll der Angeklagte einer Gefängnisstrafe entgehen. Also regelt die Polizei den Ansturm der Bedürftigen, und das Alter Ego des Regisseurs nimmt zusammen mit einem Freund die Geschichten der Willkür, der von selbstherrlichen Männern und pathologischen Glaubenseiferern produzierten Schande und Verlogenheit auf. Es ist, als stehe ein ganzes Land Schlange, um Material für Dreh-Bücher zu liefern. Geschichten wie Gebete. Drehe Du, Allah, mein Schicksal, schicke mir den Gerechten, der endlich hinsieht.

Vieles von dem, was die Bittsteller erzählen, kennt man aus den Filmen von Jafar Panahi oder Abbas Kiarostami. Doch findet Vahid Jalilvand, 1976 im Iran geboren, einen ganz eigenen Ton, zart, gläsern, um Festigkeit ringend. Während Filme wie A Modest Reception von Mani Haghighi die Scheinheiligkeit einer lediglich zu Almosen bereiten Elite anprangern, sieht Jalilvand voller Sympathie in die Abgründe seines Helden. Sein Gerechtigkeitssucher möchte wahrhaft helfen, doch wer von all den Bedürftigen soll als einziger Hilfe erhalten? Die beiden Frauen, die am Ende eines langen und schmerzhaften Prozesses in die engere Wahl kommen, stehen prototypisch für das Leiden, das ein wahnhaftes, jeden Gottesgedanken pervertierendes Patriarchat über das ganze Land bringt. Selbst die gottvollste Hilfe wird der bösen Tat verdächtigt und  von eifersüchtigen (Ehe)Männern in den Dreck gezogen. Dass sich Jalal nicht beirren lässt, obwohl, nein, gerade weil er sich mit der Uneigennützigkeit seiner Gabe auseinandersetzen muss (eine der Auserwählten war vor über zwanzig Jahren  einmal seine Verlobte),  ist ein Triumph der Liebe und der Unbestechlichkeit: Nur, weil man jemanden geliebt hat, soll man nicht reinen Herzens geben können? Wer so denkt, folgt der Logik der religiösen Scharfrichter. Selbst Jalals Ehefrau verdächtigt ihn der Hybris.


Erst im dritten Teil des Films wird Jalals Motiv für seine rastlose Suche aufgedeckt. Sein Sohn ist bei einem Autounfall gestorben, es mangelte an etwas Geld, um das Kind rasch genug zum Arzt zu bringen und operieren zu lassen. Weil niemand geholfen hat, will Jalal nicht vergessen. Vergebung fordert seine Frau ein, Tränen und Nähe. Wenn dies Gottes Wille war, wozu sich aufbäumen? Warum nicht ein neues Kind zeugen, ein Leben ohne Fragen leben, sein wie alle anderen? Auch für das Leiden dieser Ehefrau hat Jalilvand Verständnis, auch ihre Figur ist mit Sorgfalt gezeichnet. Doch ihr Konzept von Gottergebenheit zielt auf eine falsche Ruhe. Um einer größeren Liebe willen weicht er der unbequemen Trauer seines an Hiob erinnernden Jalals nicht aus. Sich auf Gott zu berufen, um den Menschen desto leichter übergehen zu können, das lässt dieser Film nicht mehr zu. Es mag wenig sein, was Jalal zu geben hat. Sein Freund gibt zu bedenken: selbst wenn Du gibst, bleiben viele unbedacht.  Jalal hört nicht auf ihn. Dieser Film  gibt mehr als genug.