Nepal nach dem Bürgerkrieg

"White Sun" von Deepak Rauniyar. Filmkritik von Maria Haberer
Seto Surya (White Sun)

 

Nepal, heute: Ein junger Mann kauft sich einen Fahrschein und steigt in einen überfüllten Bus, der ihn aus der rastlosen Stadt fährt. Chandra (Dayahang Rai) ist auf dem Weg nach Hause, einem kleinen Dorf, das sich an die steilen Hänge des Himalaya schmiegt. Seit Jahren war er nicht mehr dort, hat seine Heimat, Familie und die Liebe hinter sich gelassen, um in den Reihen der maoistischen Rebellen für ein neues Nepal zu kämpfen. Nun kehrt er zurück in eine Welt der Traditionen, die ihm fremd geworden ist, und zu Menschen mit politischen Ansichten, gegen die er gekämpft hat. Er wird dringend gebraucht. Denn sein Vater ist gestorben; der schwere Leichnam liegt auf dem staubigen Dachboden.

Das hinduistische Begräbnisritual verlangt, dass der Leichnam von seinen Söhnen mit den Füßen voraus aus dem Fenster gehoben wird. Es sind aber lediglich die Dorfältesten, Kinder und Frauen anwesend, die entweder zu schwach oder nicht berechtigt sind, den gewichtigen Verstorbenen durch das Fenster zu hieven und auf dem steinigen Pfad hinunter zum Fluss zu tragen. Begleitet von dem Waisenjungen Badri kommt Chandra viel zu spät im Dorf an – und bricht die kaum verheilten Narben auf, die der politische Konflikt dort hinterlassen hat.


In dem Drama Seto Surya (White Sun), das seine Premiere auf dem Filmfestival in Venedig feierte, wird dem Zuschauer eindringlich die Geschichte eines zerrissenen Landes im Zustand nach dem Bürgerkrieg nahegebracht. Es ist der zweite Film des jungen Regisseurs Deepak Rauniyar, der Einblick in die nepalesische Gesellschaft gewährt. Sein Debüt Highway, das Gruppenporträt einer durch einen lokalen Streik festgehaltenen Reisegesellschaft, uraufgeführt auf der Berlinale 2012, erregte international Aufsehen. Auch im eigenen Land, polarisierte der Film. Denn der Konflikt der Kriegsparteien sitzt noch tief im nepalesischen Bewusstsein. Nach 10 Jahren Bürgerkrieg zwischen Maoisten und Monarchisten, der 17.000 Menschenleben gekostet hatte, begann 2006 der Friedensprozess nur schleppend. Der Krieg hat bis heute tiefe Spuren in dem Land hinterlassen. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, die Bewohner Nepals haben die niedrigste Lebenserwartung in Asien, und die hohe Kinderarmut und das rigorose Kastendenken lassen sich nur schwer bekämpfen. Vor allem aber wirkte sich der Konflikt auf das kollektive Gedächtnis des Landes aus.

In White Sun – der Titel bezieht sich auf die weiße Sonne in der nepalesischen Flagge – entfaltet Rauniyar gekonnt und vielschichtig die Folgen dieses Konfliktes innerhalb von Familien und Generationen des Dorfes. Zwischen Chandra und seinem Bruder Suraj, die es nicht schaffen, ohne Streit über Politik die Beerdigungszeremonie zu erfüllen und den Leichnam auf dem Weg zum Fluss liegen lassen. Zwischen dem Mädchen Pooja und ihrer Mutter Durga, die ihrem Kind die Identität des Vaters verschweigt, worauf sich Pooja  Chandra als Vater wählt. Zwischen der modern und pragmatisch denkenden Durga und den traditionellen Dorfältesten, die ihr nicht erlauben, den Toten zu berühren, um den sie sich bis zu dessen Tod gekümmert hat. Zwischen maoistischen Guerillas und Monarchisten, die ihren Kampf nicht einmal für eine religiöse Pflicht unterbrechen können. Und zwischen den Kindern, deren Eltern Opfer des Krieges wurden und den Erwachsenen, die daran Schuld haben.


Der ganze Schmerz dieser heillosen Nachkriegsgeneration bricht in einer Schlüsselszene des Filmes hervor: Als der Waisenjunge Badri erfährt, dass Chandra für die Maoisten gekämpft hat, macht er ihn für den Tod seiner Eltern verantwortlich. Schreiend hämmert er mit seinen kleinen Fäusten auf Chandra ein, der die Schläge beschämt auf sich hinabregnen lässt und ihn dabei fest in den Armen hält. Ein Moment der Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber der eigenen Vergangenheit. Die seelischen Brüche dieser Gesellschaft werden in den Kindern weitergetragen und vielleicht von ihnen eines Tages gelöst, diese Hoffnung transportiert der Film.

Die atemberaubenden Landschaften des Himalaya bilden eine eindrucksvolle Kulisse. Und die Schauspieler, mit den wettergegerbten Gesichtern, verkörpern lebendig die unterschiedlichen Traumata dieses Landes. Die authentischen Szenen und Dialoge verdankt der Film der Regie von Rauniyar, der seinen Schauspielern grundsätzlich freie Hand zur Improvisation lässt.


White Sun ist ein Film, der nicht nur westlichen Zuschauern einen Einblick in das dörfliche Leben in den nepalesischen Bergen mit seinen religiösen Ritualen gibt, die im scharfen Kontrast zur säkularen Politik stehen. Man kann White Sun als einen Appell an die eigenen Landsleute verstehen: Lasst uns Dialoge eröffnen, durch Bild und Sprache, und die Vergangenheit gemeinsam bewältigen. Vor allem aber als einen ein Appell an die nächste Generation, eine Zukunft jenseits erstarrter Ideologien aufzubauen und Brücken zu schlagen zwischen einem traditionellen und dem modernen Nepal.