Nach Osten schauen

Bericht zum 29. FilmFestival Cottbus. Von Gaëlle Courtens, Präsidentin der Ökumenischen Jury
Ökumenischer Empfang Cottbus 2019

Ökumenischer Empfang Cottbus 2019 in der Oberkirche: Angelika Obert (Mitte) und Festivaldirektor Bernd Buder (rechts) (© 29. FilmFestivalCottbus)


Das Filmfestival von Cottbus gilt als eines der 50 wichtigsten Filmfestivals der Welt, und zu Recht. Sein spezifischer geographischer Focus hat nach 30 Jahren Mauerfall nichts an Aktualität verloren, im Gegenteil: das Festival hat sich weiter geöffnet und diesmal auch Filme der nicht ex-realsozialistischen Länder Finnland, Griechenland und Türkei einbezogen.

Sehr interessant waren neben dem Wettbewerb auch die anderen, zahlreichen Sektionen der diesjährigen Ausgabe, insbesondere die Filmreihe zum Anlass des 30-jährigen Mauerfalls unter dem Titel „Wende- und Nachwendezeit“, als auch das Spotlight auf den montenegrinischen Film, der Focus auf die Minderheiten-Filme und der Kurzfilm-Wettbewerb. Obwohl die Juryarbeit es nicht erlaubte, das ganze Angebot des FFC 2019 wahrzunehmen, sei hier auch noch folgendes „Special“ erwähnt: „Zwischen Bauhaus und Brutalismus - Zum Umgang mit dem Erbe der sozialistischen Architektur-Moderne“.

 

Vielfalt der Filme

Die 12 Filme im Wettbewerb verdeutlichten die große kulturelle, gesellschaftspolitische und künstlerische Vielfalt Osteuropas. Interessant schien mir die Anzahl junger Filmschaffender, unter denen auch Regisseurinnen gut vertreten waren, als auch die erstaunlichen schauspielerischen Kapazitäten. Bei einem hohen technischen Niveau ließen gelegentlich die Drehbücher zu wünschen übrig. Generell hat das FFC2019 in mir den Eindruckt erweckt, dass der osteuropäische Raum ein großes filmisches Potenzial hat, das für die nächste Zukunft interessante Perspektiven eröffnet, und zwar nicht nur auf regionaler Ebene, sondern auf internationalem Niveau. Gerade West-Europa müsste seinen Blick öfters nach Osten wenden.

Der Preis der Ökumenischen Jury ging an FULL MOON (Bosnien-Herzegovina, 2019) von Nermin Hamzagić. Der Hauptdarsteller des Films, Alban Ukaj, erhielt den Preis der Internationalen Jury als Bester männlicher Darsteller.

Der Film war in unserem Screening Schedule der zweitletzte, was dazu führte, dass wir uns in kürzester Zeit neu zu entscheiden hatten. Wir waren bei der Preisverleihung umso froher zu erfahren, dass unser ursprünglicher Favorit, MIT EINEM SCHARFEN MESSER (Slowakei/Tschechien, 2019) von Teodor Kuhn von der Internationalen Jury mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet wurde. Kuhn hat es verstanden, mit seiner Arbeit auf das nimmer schwindende Thema des Spannungsfeldes zwischen Legalität und Legitimität hinzuweisen, indem er auf eine wahre Geschichte von 2005 zurückgreift: die Suche eines Vaters, dessen Sohn von Neonazis ermordet wurde, nach Gerechtigkeit. Auch hier, wie in „Full Moon“, ist der Film eine Anklage gegen ein korruptes System.


Hervorzuheben ist auch der ukrainische Film DIE GEDANKEN SIND FREI von Antonio Lukich, der mit viel Humor und einigen komischen Szenen die Geschichte eines jungen Tontechnikers erzählt, der beim Einfangen von Tiergeräuschen davon träumt, nach Kanada auszuwandern. Auf der Suche nach einem seltenen Vogel in den ukrainischen Karpaten begleitet den spindeldürren und über zwei Meter langen Jungen ausgerechnet seine aufdringliche Mutter. Die skurrile Komödie, der erste Spielfilm des Regisseurs, nimmt dann auch die Mutter-Sohn-Beziehung unter die Lupe. Eine ungewollte Begegnung des Jungen mit der Armee, der ihn als Spion verdächtigt, ist Grund für weiteres Schmunzeln. Wer es schlussendlich wirklich schafft auszuwandern, ist aber nicht der junge Bursche, sondern die höchst launische Mutter (überzeugend gespielt von Irma Vitovska).


Obwohl nicht im Wettbewerb, sei noch kurz auf den Abschlussfilm des Festivals hingewiesen, den wir gerade als ökumenische Jury sehr gerne weiterempfehlen: CORPUS CHRISTI (Polen, 2019) von Jan Komasa. Wegen krimineller Vorgeschehnisse darf ein junger Mann, der das Talent hätte zum katholischen Priester mit seelsorgerischen Kapazitäten zu werden, nicht ins theologische Seminar. Als er in ein Dorf kommt, wo der Pfarrer ins Spital muss, übernimmt der junge Mann einfach die Rolle des Dorfpriesters und beginnt, die verstrittenen Menschen dort wieder miteinander zu versöhnen. Der Film zeigt die abstoßenden Umstände, die durch Hassreden entstehen, und wie man mit Empathie dagegen kämpfen kann.

 

Ökumenischer Empfang

In der wunderschönen Oberkirche St. Nikolai konnte sich die Ökumenische Jury am Donnerstagnachmittag vor einem Publikum von etwa 50 Personen vorstellen. Diese Aufgabe hatte Angelika Obert von INTERFILM übernommen. Die Reden von Festivaldirektor Bernd Buder und von Pfarrer Uwe Weise, als auch die ungarischen Musikstücke eines ausgezeichneten Geige-Klavier Duos, prägten den Anlass. Im Anschluss wurde der ungarische Kurzfilm SING (2016) gezeigt, der das Solidaritätsverständnis von Kindern untereinander gegen eine höhere Autorität überzeugend darstellt.

In der Kirche konnte man zudem die Fotoausstellung des Cottbuser Bildjournalist Rainer Weisflog bewundern: „30 × 89/90: die Wende fotografieren“. Das Ende des sogenannten Eisernen Vorhangs war 1990 der Anfang für das Film Festival Cottbus, das zu einem der weltweit führenden Festivals des osteuropäischen Films entwickelt hat. Das 30-jährige Jubiläum nächstes Jahr kündigt sich als unumgänglicher Termin für die Kinoliebhaber und -liebhaberinnen schon heute an.