Kino darf auch wehtun

Grußwort zum Ökumenischen Empfang des Filmfestivals Mannheim-Heidelberg 2012
Ich begrüße Sie herzlich im Namen der Trägerorganisationen der Ökumenischen Jury, INTERFILM, der internationalen kirchlichen Filmorganisation, und SIGNIS, der katholischen Weltorganisation für Kommunikation, und auch im Namen meines katholischen Partners und langjährigen Mitstreiters, Peter Hasenberg. Ich bin sehr dankbar, dass ich hier, in Mannheim, eine Frage nicht mehr beantworten muss. Oder kaum noch. Es ist die Frage: Warum macht ihr das? Warum beschäftigt ihr, die Kirchen, euch mit Film und Kino? Ich finde, es ist oft genug gesagt worden, dass die Kirchen den Dialog suchen mit etwas, was das diesjährige Festivalmotto kurz und bündig, treffend und erhellend beschreibt mit „Leben! Aber wie?“ Leben, das ist ja tatsächlich eine Kinoangelegenheit par excellence – in einer Vielfalt von Geschichten, Figuren, Formen und Ausprägungen. Und deshalb gibt es sie nur in Verbindung mit einem ganzen Sack voll Fragen, die sich hinter dem knappen „Aber wie?“ in Wahrheit verbergen. In seinem Essay zum Festivalmotto hat Michael Kötz eine ganze Reihe solcher Fragen genannt. Wie werden wir glücklich, zum Beispiel. Oder: Sind wir so frei, wie wir glauben? und: Hat uns der Fortschritt wirklich vorangebracht? Kinogänger, und Festivalbesucher erst recht, sollte man sich als Leute vorstellen, die von diesem mit Fragezeichen überschütteten, alle Gewissheiten überrollenden Leben nicht genug kriegen können.
 
Ich habe den Schlüsselbegriff bereits genannt, dem wir uns verpflichtet fühlen: Dialog. Ich komme darauf zurück, weil das Motto seinerseits zum Dialog provoziert, vom Essay des Festivaldirektors gar nicht zu reden. Mein erster Gedanke geht ein ganzes Stück in die Filmgeschichte zurück, zu einem Film, dessen Titel so klingt, als könnte er die Quelle seiner Inspiration gewesen sein: Leben!, mit Ausrufezeichen, ein japanischer Film von 1952, passenderweise also sechzig Jahre alt, Regie: Akira Kurosawa, Originaltitel: Ikiru. Es geht um einen kleinen, in seiner Routine erstarrten Beamten der Stadtverwaltung von Tokyo, der zu Beginn der Geschichte erfährt, dass er Magenkrebs hat und nur noch wenige Monate zu leben. Der Film endet mit seiner Totenfeier, auf der die Trauergäste die Frage erörtern, was ihn in seinem Zustand dazu gebracht hat, gegen alle Widerstände den Bau eines Kinderspielplatzes durchzusetzen. Was sie nicht begreifen ist, dass er im Moment der Todesnachricht begonnen hatte zu leben. Wir aber wissen es, weil der Film es uns gezeigt hat. Weil wir es gesehen haben, das Leben. Man muss auf einem den Newcomern gewidmeten Festival nicht unbedingt einen sechzig Jahre alten Klassiker zeigen. Aber wenn Sie nach Hause kommen, versuchen Sie, Ikiru zu sehen – es gibt eine wunderbare amerikanische DVD-Fassung von Criterion.
 
 
Abgesehen von dieser dringenden Empfehlung will ich den sei’s philosophisch-existentialistischen, sei’s religiösen Gedanken festhalten, dass die Frage „Leben! Aber wie?“ ohne Einschluss des Todes, ohne Rücksicht oder besser: Vor-Sicht auf diese Grenze ins Leere zu laufen droht. In ein ständig beschleunigtes Vorwärts, das mit einer gründlichen Selbst- und Weltvergessenheit einhergeht, eben in eine Bewegung ohne Fragezeichen. 
 
Lieber Michael, Du hast es vielleicht aus promotionstaktischen Gründen vermieden, diese dunkle Seite zu erwähnen. Auf einem Kirchenempfang darf ich mir erlauben, diese Leerstelle zu füllen. Immerhin hat einer der elegantesten Stilisten des Kinos, Jean Cocteau, die inzwischen etwas zu oft zitierte, hier jedoch angebrachte Wendung geprägt: Film heißt, dem Tod bei der Arbeit zuzuschauen. Was, wie ich hinzufüge, nichts anderes bedeutet als: das Leben sichtbar zu machen.
 
Ich will noch einen zweiten Film erwähnen, der genau so heißt wie der Kurosawas, auch mit dem offenbar unvermeidlichen Ausrufezeichen: Leben! von Zhang Yimou, aus dem Jahr 1994. Mit zwei Jahren Berufsverbot hat der Regisseur seinen in China gedrehten Film damals bezahlt. Es ist die Geschichte eines auf dem Land lebenden Paares von den vierziger bis zu den sechziger Jahren, von der Kuomintang bis zu Maos Kulturrevolution – eine einzige Kette von anfänglich selbstverschuldeten, dann nur noch in ideologisch-politischer Willkür begründeten Drangsalen, ein ständiger Überlebenskampf. Berühmt wurde Zhang Yimou durch Das rote Kornfeld, die Verfilmung eines Romans des jüngsten Literaturnobelpreisträgers, Mo Yan. Beide, Filmemacher und Schriftsteller, erinnern daran, dass die elementarste Voraussetzung menschlicher Sicherheit und menschlichen Glücks, das Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, noch lange nicht überall Geltung besitzt. Es ist in einer nicht nur in der christlichen Tradition wurzelnden Vorstellung und Überzeugung von menschlicher Würde begründet. Wenn wir vom Leben zu sprechen beginnen, wenn Filme uns Geschichten des Lebens erzählen, so müssen wir auch seiner ethischen Dimension Rechnung tragen. Das Leben, das uns das Kino zeigt, darf manchmal auch richtig wehtun.