Keine Angst vorm Fliegen!

Bei der 80. Filmbiennale in Venedig wird die Wirklichkeit auf besondere Weise transzendiert
Io capitano (Matteo Garrone)

Preis der INTERFILM-Jury zur Förderung des interreligiösen Dialogs Venedig 2023: "Io capitano" von Matteo Garrone

 
Würde man nicht alle, aber viele Filme der 80. Mostra 2023 in Venedig auf einen Nenner bringen wollen, könnte ein verbindendes Motiv das Fliegen sein. Real oder symbolisch wurde es als beängstigende, kontrapunktische, befreiende Erfahrung gezeigt.

Das ging gleich am ersten Tag der Filmbiennale los: Zunächst waren es – im Eröffnungsfilm „Comandante“ von Edoardo de Angelis - lediglich Quallen, die über dem U-Boot schwebten, das, um durch die im 2.Weltkrieg umkämpfte Meerenge von Gibraltar zu gelangen, ganz tief unter den Bomben und Feuergefechten hindurch fahren muss. Über dem Boot und unter den Feuerstürmen über dem Meeresspiegel bewegen sich diese riesigen prächtigen Tiere, als würden sie alleine durch ihre Existenz das menschliche Treiben und Töten in Frage stellen.

Allerdings stellt dieses Treiben auch der Comandante mit dem symbolischen Namen Salvatore (es ist der wirkliche Name eines realen Helden) in Frage, indem er Schiffbrüchige rettet und sich und seine Mannschaft doppelt in Gefahr bringt.


Dem „El Conde“ von Pablo Larraín geht es lediglich um die Rettung seiner alternden Vampirhaut, die er regelmäßig in die Lüfte schwingt, um immer neuen Opfern das Blut auszusaugen oder ihre Herzen herauszureißen, die er für ein späteres Mixgetränk sammelt. Wirklich herzzerreißend ist später der Flug einer jungen Nonne, die sich, frisch gebissen und gerade zur Vampirin verwandelnd, zunächst etwas unbeholfen in die Luft schwingt, um dann zunehmend gekonnt und gelöst von Schwerkraft und anderen irdischen Fesseln die ungewohnte himmlische Dimension der Fortbewegung genießt. Es ist dann leider ein kurzes Vergnügen, und nur der Pinochet nachgezeichnete Vampir überlebt und verjüngt sich mithilfe seiner Vampirmutter Thatcher, die zusammen mit dem Menschenfressersohn losfliegt, zu immer neuen Untaten.

An Fliegen ist in „Dogman“ von Luc Besson nicht zu denken, der Protagonist Douglas ist schon froh, wenn er ein paar Minuten stehen oder gar gehen kann. Der Name ist ein (partielles) Palindrom des halb verdeckten Banners „In the Name of God“, das der bigotte Bruder vor den Hundekäfig gehängt hat, in den er, im Verbund mit dem gewalttätigen Vater, den kleinen Bruder einsperrt. Die mit ihm eingesperrten Hunde werden zu Werkzeugen, die die eingeschränkte Wirklichkeit des gehbehinderten „Dogman“ transzendieren und sein Handlungsfeld enorm erweitern.  Daneben ist es die Stimme, die den begabten Künstler später „fliegen“ lässt – bis er, selbst gewählt, wie es scheint, im Schatten eines Kirchenkreuzes stirbt.


In „City of Wind“ ist es die Kamera, die fliegt und die Welten zeigt, zwischen denen der junge Schamane in Lklagvadulam Purech-Ochirs Film sich bewegt und zwischen denen er vermitteln muss. Anders als in dem iranischen „Tatami“ und im türkischen „Yurt“ zeigt sich die Religion als lebensermöglichende Kraft zwischen den Welten, die die Wirklichkeit erhellt und nicht verdunkelt.

Ganz der Erde verhaftet bleiben wir in dem finsteren „Bastarden“ von Nikolaj Arcel, in dem Ludvig Kahlen (Mads Mikkelsen) in der wilden Heide von Jütland im 18. Jahrhundert Kartoffeln anbauen will und einem gnadenlosen Fürsten in die Quere kommt. Dadurch wird auch Ludvigs Gefolgschaft in Mitleidenschaft gezogen, seine Wahlfamilie fast umgebracht – spät lernt der Egomane, dass ehrgeizige Pläne nicht alles sein dürfen, was man hat und wird vor allem durch starke Mädchen und Frauen darüber belehrt, dass der Preis für den Erfolg einfach auch zu hoch sein kann.


Ein Mann hat eine Idee, Menschen leiden (darunter): neben dem Flugmotiv könnte auch dies eine Überschrift über viele Filme der Mostra sein. In dem grandiosen „Poor Things“ von Yorgos Lanthimos hat Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) die frankensteinsche Idee, das Gehirn des lebenden Embryos im Körper einer Selbstmörderin dieser selbst wieder einzupflanzen. Das Ergebnis ist wirklich erstaunlich: Bella Baxter (Emma Stone), eine wunderschöne erwachsene Frau mit dem Gehirn eines Babys, lehrt im Laufe ihres raschen Reifungsprozesses die Männer und deren Welt das Fürchten und zeigt, dass ein Mann zwar eine Idee haben, dass diese sich aber so rasch emanzipieren kann, dass die Idee sich schließlich gegen den Verursacher kehrt – oder eine friedliche Koexistenz möglich wird. „God“, wie Bella ihren Ziehvater zärtlich nennt, hat ein erstaunliches Wesen geschaffen, das ihn am Ende, im Kreis ihrer selbstgewählten Lieben, nicht mehr braucht – der Goldene Löwe gesellt sich zum Gras fressenden Ex-Ehemann, der sich schließlich als Ziege versteht – dank Goddess Bella.

Ein Mann hat eine Idee, Menschen leiden: Das findet seine Fortsetzung in Mohamed Ben Attias „Behind the Mountains“, in dem ein Mann entdeckt, dass er fliegen kann und seinen bei der Mutter lebenden Sohn entführt, um diesem „hinter den Bergen“ diese Fähigkeit zu zeigen. Am Ende dieses gewaltvollen Weges kann er sich mit diesem tatsächlich eine Weile in der Luft halten – stürzt aber, da bereits schwer verletzt, schließlich ab.


Aber auch das: Ein Mann hat keine Idee, Menschen leiden: In „Enea“ von Pietro Castellito kommt der drogendealende Sohn aus reichem Haus zu richtig viel Geld, weiß aber nicht so recht, was er damit anfangen soll und unterschätzt auch die Begehrlichkeiten ringsum. Sein bester Freund, der Pilot Valentino, will Eneas Leben retten und fliegt mit seiner Maschine in das Büro des Hochhauses, in dem sich der Drogenboss befindet. Zwar glückt der Anschlag, aber dennoch wird Enea schließlich erschossen, während seine Eltern sich gerade küssen und im wahrsten Sinne des Wortes abheben.

Die schönsten und berührendsten Flugszenen aber bekommen wir in Matteo Garrones „Io Capitano“ zu sehen, der von der Reise zweier senegalesischer junger Männer, Seydou und Moussa, nach Europa erzählt. Die Erzählungen von Migranten aus Afrika hat der Regisseur zu einer starken Geschichte verdichtet, und der Film zeigt uns die Erlebnisse aus deren Augen.


Einige phantastische Elemente tranzendieren die harte Realität. Beim mehrtägigen Marsch durch die Wüste bleibt eine Frau zurück, die Seydou nicht mehr zum Weitergehen bewegen kann und zurücklassen muss, um nicht selbst den Anschluss an die Gruppe zu verlieren. Im Traum aber kehrt Seydou zu ihr zurück, nimmt sie an der Hand und sie schwebt, während er mit ihr weitergeht, dem Rand der Wüste, dem Meer entgegen. Einmal noch muss Seydou die Wirklichkeit auf diese Weise überwinden. Eingesperrt in einem libyschen Internierungslager, grausiges Überbleibsel der ghadafischen Foltercamps und fast zu Tode gebracht von Folterern, die weiterquälen, wo schon lange nichts mehr zu holen ist, wird er im Traum von einem Malak besucht, einem kindlichen Engel, der mit ihm in das Dorf der Mutter zurückfliegt. Zwar kann sich Seydou ihr nicht direkt nähern, doch flüstert der Engel der Schlafenden ins Ohr, dass es dem Sohn leid tue, sie ohne Abschied verlassen zu haben.Tatsächlich kommt Seydou noch einmal davon, und schEdoardo De angelisließlich auch der Cousin Moussa, begleitet von einigen menschlichen ‚Engeln‘, die neben den Menschenschindern am Werk sind. Als die beiden schließlich die Küste Italiens erreichen – Seydou hat als Kapitän wider Willen tatsächlich alle ihm Anvertrauten heil übers Mittelmeer gebracht - ruft er triumphierend die ersten italienischen Worte, die er unterwegs gelernt hat, nach oben zu dem um sie kreisenden Helikopter: „Io Capitano!“ – immer wieder.

Wir wissen, dass es kein Happy End ist und dass die Schwierigkeiten jetzt erst anfangen. Dennoch gibt der Film Hoffnung – darauf „dass niemand stirbt, weil Gott mit uns ist“ – so lautet der Ruf am Ende, kurz vor der Aufgabe, noch bevor das Ufer sichtbar wird, und vereint die Verzweifelten, die unterschiedlichen Glaubens und Unglaubens miteinander unterwegs sind.


Dass dieser Film einen Preis verdient hat, war nicht nur die Meinung der INTERFILM-Jury. Ohne Absprache untereinander erhielt „Io Capitano“ die Auszeichnung fast aller anderer unabhängiger Jurys – sowie den Silbernen Löwen für Beste Regie. Und das lag nicht daran, dass es keine weiteren herausragenden Filme gegeben hätte. „Green Border“ von Agnieszka Holland erzählt vom grausamen Schicksal der Flüchtlinge, die zwischen Belarus und Polen wie Fußbälle hin und her gekickt und dabei furchtbar misshandelt werden. Pema Tsedens letzter Film „Snow Leopard“, in dem ein Mönch mithilfe eines Schneeleoparden gewissermaßen fliegen lernt, führt uns die gefährdete Beziehung zwischen Mensch, Tier und Natur vor, so wie auch Ryusuke Hamaguchis „Evil Does Not Exist“.

Ich hätte auch – statt des Fliegens – eine ‚Tierlinie‘ durch die Filme ziehen können. Da ist der Hund, den die U-Boot-Mannschaft in „Comandante“ bei sich hat, dann sind da die vielen Hunde in „Dogman“ (die zwar alle bestimmte Aufgaben haben, aber nicht als Persönlichkeiten gezeigt werden, so wie der Schneeleopard, aus dessen/in dessen Augen wir eine andere Wirklichkeit sehen), ferner der Löwe, den Alba in dem wunderbaren “Finalmente l´alba“ zähmt, und nicht zuletzt die heiligen „Deers“ in Hamaguchis „Evil Does Not Exist“.


Oder ich hätte eine kritische Betrachtung des male gaze schreiben können, angefangen beim schon mehrfach genannten „Comandante“, der sich an seine Frau in der Weise erinnert, dass sie sich - nur mit seiner Kapitänsmütze bekleidet – lasziv zu ihm umdreht oder nackt in der Badewanne liegt. Da dies der Eröffnungsfilm war, wäre an eine Ringkomposition zu denken, da unser letzter Film – „Memory“ von Michel Franco – eine viel schönere Badewannenszene zeigt, nämlich als Peter Sarsgaard, sich über Jessica Chastain beugend, vollends in die Wanne fällt – ihn sieht man übrigens auch öfter nackt als sie.

Wo war er denn, der weibliche Blick? Immerhin gab es „Priscilla“ von Sofia Coppola im Wettbewerb, und mit „Origin“ von Ava DuVernay gelangte erstmals der Film einer schwarzen Amerikanerin nach Venedig. Ein künstliches Kastensystem – und nicht etwa die „Rasse“ ist es, die Menschen voneinander anscheinend (unter-)scheidet und zu Ungleichbehandlung führt, das erzählt sie und vergisst dabei fast, dass die Kaste der Frauen die größte von allen ist.


Und was ist mit der Religion? Sie hat Menschen aller Jahrtausende nicht nur unterdrückt, sondern auch fliegen gelehrt, und das Kino hat auf dieser Biennale diese Bewegung auf vielfältige Weise mitgemacht und die Transzendierung der Wirklichkeit nachvollzogen.