Karlovy Vary 2023

Fesitvalbericht von Peter Paul Huth


Es war ein gutes Jahr für das Festival im böhmischen Kurort Karlovy Vary (Karlsbad). Ein hochkarätiger Wettbewerb mit spannenden Filmen.

Seit Corona und dem Krieg in der Ukraine sind die früher allgegenwärtigen Russen aus dem Stadtbild verschwunden. Wie Einheimische sagen, sind nach wie vor 80 % der Hotels in russischer Hand. Schon im 19. Jahrhundert war Karlsbad ein beliebtes Heilbad für russische Gäste, davon zeugt heute noch die aufwändig restaurierte russische Kirche. Während des Festivals verwandelt sich die gesamte Bäderzone in eine 24/7 Party Location. Der ehrwürdige Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe, der Karlsbad insgesamt 13 Mal besuchte, wäre angesichts der musikalischen Dauerbeschallung wohl aus dem Bett gefallen. Vielleicht hätte er auch mit der 19jährigen Ulrike von Leventzow, seiner letzten großen Liebe, die Nacht durchgemacht. Nachdem sie sein wiederholtes Heiratsangebot endgültig ablehnte, verließ er im September 1823 enttäuscht die Stadt und kam nie wieder.


Anders geht es den Besuchern des Filmfestivals, das alljährlich Anfang Juli stattfindet. Sie haben die Tendenz, jedes Jahr wiederzukommen, um die besondere Atmosphäre des Ortes zu genießen und sich von der Kinobegeisterung des tschechischen Publikums anstecken zu lassen. Die Vorführungen sind ausverkauft, anschließend gibt es Diskussionen mit den Filmemachern. Hinzu kommt, dass man in Karlovy Vary es immer wieder schafft, internationale Stars einzuladen. In diesem Jahr waren es der Australier Russell Crowe, der zur Eröffnung ein Konzert mit seiner Band gab; die Schwedin Alicia Vikander als Hauptdarstellerin des Eröffnungsfilms „Firebrand“, der schottisch-amerikanische Schauspieler Ewan McGregor, der den Film präsentierte, den er zusammen mit seiner Tochter gemacht hatte, und die Amerikanerin Robin Wright, die der Preisverleihung Glanz verlieh. Jeweils ausgezeichnet mit einem Ehrenpreis des Festivalpräsidenten.


Filmisch war es ein gutes Jahr in Karlovy Vary mit einem eindrucksvollen Wettbewerb. Gleich zu Beginn setzte „Empty Nets“ (Leere Netze), das Spielfilmdebüt des in Berlin lebenden Iraners Bahrooz Karamidzade, einen starken Akzent. Amir (Hamid Reza Abbasi) liebt Narges (Sadaf Asgari), aber er kann sie nicht heiraten, weil er kein Geld für die Mitgift hat. Als er seinen Job in einem Restaurant verliert, heuert er bei einem Fischereibetrieb am Kaspischen Meer an. Hier herrschen raue Sitten. Die Fischer werden gnadenlos ausgebeutet, nachts wird illegal nach Stör gefischt. Ein regimekritischer Journalist versucht, übers Meer nach Aserbeidschan zu fliehen. Vom Gerechtigkeitsversprechen der Islamischen Revolution ist nicht viel übriggeblieben, alles dreht sich um Geld. Eine Jugend ohne Perspektive. Dass der Film so authentisch wirkt, liegt einerseits an seinen großartigen Hauptdarstellern, aber sicher auch daran, dass er im Iran gedreht wurde. Ob er dort auch gezeigt werden kann, ist eine andere Frage. Verdient gewann „Empty Nets“ den Special Jury Preis. Im Januar 2024 wird die deutsch-iranische Koproduktion bei uns ins Kino kommen.


Für den amerikanischen Schwarzweiß-Film „Fremont“ dürfte es schwerer sein, einen Verleih zu finden. Das Werk des iranisch-britischen Regisseurs Babak Jalili sorgte schon beim Sundance Festival für Aufsehen und gewann in Karlovy Vary den Regiepreis. Donya (Anaita Wali Zada ) hat in Afghanistan als Übersetzerin für die amerikanische Armee gearbeitet und lebt jetzt in der Industriestadt Fremont in einem Apartmentkomplex mit anderen afghanischen Flüchtlingen. Sie arbeitet in einer Fabrik für chinesische Glückskekse, wo sie die Texte verfasst. Die Abende verbringt sie allein in einem afghanischen Lokal. Weil sie unter Schuldgefühlen und Schlafstörungen leidet, sucht sie einen Therapeuten auf. Behutsam erzählt der Film davon wie Donya allmählich aus ihrer Einsamkeit herausfindet und zunehmend selbstbewusster wird. „Fremont“ besitzt eine Leichtigkeit, die nie sentimental wird, und versöhnt mit einem hoffnungsvollen Ende.

Die afghanische Hauptdarstellerin Anaita Wali Zada war eine der Favoritinnen für den Preis als beste Schauspielerin. Doch der ging an die Bulgarin Eli Skorcheva, die in „Blaga’s Lessons“ (Blagas Lektionen) eine pensionierte Lehrerin spielt, die von Telefonbetrügern um ihr Geld gebracht wird, das sie für das Grab ihres verstorbenen Mannes zurückgelegt hatte. Der Film von Stephan Komandarev war der große Sieger bei der Preisverleihung und gewann nicht nur den Crystal Globe, sondern auch den Preis der Ökumenischen Jury. In seiner Dankesrede widmete der Regisseur den Film der Generation seiner Eltern, die zu den Verlierern der neuen Marktökonomie in nachsozialistischen Bulgarien gehörten.


„Blaga’s Lessons“ ist in seinem psychologischen Realismus ein beeindruckendes Sozialportrait, doch hat man den Eindruck, dass hier vor allem das soziale Thema prämiert wurde. Das Drehbuch wirkt wenig plausibel und ist auf einen gewissen Mitleidseffekt hin konstruiert. Es fällt schwer zu glauben, dass die strenge Lehrerin und Witwe eines Polizisten so naiv ist, den telefonischen Anweisungen eines falschen Kommissars widerspruchslos zu folgen und ihr ganzes Geld samt Ehering vom Balkon wirft. Dass sie später die Seiten wechselt und Teil der kriminellen Organisation wird hat, den Anschein einer Konstruktion, die der Protagonistin übergestülpt wird, um ein moralisches Dilemma zu präsentieren.


Dagegen beeindruckt der schwedische Debütfilm „Hypnosen“ (Die Hypnose) durch ein intelligentes Drehbuch und subtile Situationskomik. Vera (Asta Kamma August) und André (Herbert Nordrum) sind ein Paar. Sie haben eine App entwickelt, die Frauen auf der ganzen Welt Hilfe anbieten soll, wenn sie gesundheitliche Probleme haben. Als Gründer ihres Zwei-Personen Start-Ups nehmen sie an einer Coaching Veranstaltung mit dem bezeichnenden Namen ‚Shake Up‘ teil, um sich auf den Pitch vor potentiellen Investoren vorzubereiten. Zuerst läuft alles nach Plan. Doch als Vera eine Hypnose-Therapie macht und ihren unterdrückten Impulsen freien Lauf lässt, ist nichts mehr so wie vorher. Ungehemmt sagt sie, was sie denkt, ohne auf ihren Freund und Partner André Rücksicht zu nehmen.

Mit satirischer Leichtigkeit entlarvt der Film die Rituale professioneller Selbstdarstellung ebenso wie die Worthülsen des Business Vokabulars von falscher ‚Authentizität‘. Wie Vera es schafft, die ganze Veranstaltung und ihren Coach Julian aufzumischen, das ist einfallsreich inszeniert. Herbert Nordrum gewann den Preis als bester Darsteller, Regisseur Ernst De Geer wurde mit dem Europa Cinemas Label, dem Preis der europäischen Programmkinos, und dem FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritik ausgezeichnet.


Der vielleicht beste Film des Wettbewerbs ging bei der Preisverleihung leer aus. „Les chambres rouges“ (Red Rooms) von Philippe Plante ist ein äußerst verstörender Thriller. Womöglich zu verstörend für die Jury. Die amerikanische Filmzeitschrift ‚Deadline‘ charakterisiert ihn als „disturbingly brilliant psychological horror“. Der 34jährige franco-kanadische Regisseur Philippe Plante benutzt das Serienkiller Genre für die psychologische Studie einer mysteriösen jungen Frau, deren Motive bis zum Schluss im Dunkeln bleiben. Kelly-Anne (Juliette Gariépy) arbeitet als Model und lebt im verglasten Ein-Zimmer-Apartment eines anonymen Hochhauses. Wir folgen ihr zum Justizgebäude und sehen, wie sie als Zuschauerin den Prozess gegen einen Mann verfolgt, der angeklagt ist, drei junge Mädchen zwischen 13 und 16 Jahren gefoltert und bestialisch ermordet zu haben. Die Taten hat er live im Dark Net gestreamt.

Als zwei der Videos vor Gericht gezeigt werden, sehen wir nichts davon, sondern hören nur die Schreie der Opfer, ähnlich wie in „Benny's Video“ von Michael Haneke. Was zur Überführung des Täters fehlt, ist das dritte Video. Auf welche Weise Kelly-Anne dieses entscheidende Beweisstück aufspürt und was sie damit vorhat, ist spannungsreich in Szene gesetzt. Juliette Gariépy verkörpert die Ambivalenz der Figur auf so glänzende Weise, dass sie auch zu einer Favoritin für den Darstellerpreis wurde. Schön wäre es, wenn, „Les chambres rouges“ auch in Deutschland ins Kino käme.

Mit der deutsch-libanesischen Produktion „Dancing on the Edge of a Volcano“ (Tanzen am Rande des Vulkans), bricht die Realität des Libanon in die fiktive Welt des Kinos ein. Regisseur Cyril Aris dokumentiert die Dreharbeiten des Films „Costa Brava, Lebanon“. Die Vorbereitungen sind gerade abgeschlossen. In wenigen Tagen soll der Dreh beginnen. Da kommt es am 4. August 2020 im Hafen von Beirut zu einer gigantischen Explosion mit über zweihundert Toten, mehr als 7000 Verletzten und der Zerstörung ganzer Stadtviertel. Die Regisseurin Mounia Akl und das ganze Team stehen unter Schock. Der Kameramann Joe Saadeverliert fast ein Auge. Durch die Katastrophe hat das libanesische Pfund enorm an Wert verloren. Das Budget ist dramatisch geschrumpft. Die Banken blockieren die Einlagen der Produktion. Alle sind verzweifelt und kurz davor aufzugeben. Doch dann entschließen sie sich, trotz denkbar widriger Umstände weiterzumachen.


Der Film dokumentiert auch, wie die Bewohner der Stadt auf die Straße gehen und Aufklärung über die Katastrophe und die Ablösung der korrupten politischen Elite verlangen. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung schaffen es Mounia Akl, die Schauspieler und das Team, ihren Spielfilm fertig zu drehen. Die Arbeit wird zu einer Form von kollektiver Sinnstiftung und Therapie. Man ist versucht, an die magische Kraft des Kinos zu glauben, die über alle Hindernisse triumphiert. Es mutet an wie ein sentimentales Happy End, dass „Costa Brava, Lebanon“ nach Venedig eingeladen und dort gefeiert wird.

Karlovy Vary ist ein Ort, an dem nach den schweren Corona-Jahren die kollektive Begeisterung für das Kino wieder spüren konnte. Offensichtlich sind Streaming Plattformen nicht in der Lage, das Gemeinschaftsgefühl und die Aufmerksamkeit ersetzen, wie man sie nur im Kinosaal erlebt. Das Festival weckt die Hoffnung, dass dies auch in Zukunft möglich sein wird.