Geschichten aus Osteuropa

Festival-Bericht aus Cannes 2022 (3)
EO (Jerzy Skolimowski)

EO (Jerzy Skolimowski; © Aneta Gebska / Filip Gebski)


Cannes verspricht in diesem Jahr ein spannendes Festival zu werden. Altmeister wie die Brüder Jean-Pierre & Luc Dardenne, David Cronenberg und Jerzy Skolimowski sind mit ihren neuen Filmen im Wettbewerb vertreten. Skolimowski war schon 1965 mit „Walkover“ als ein Vertreter der ‚Neuen Welle‘ des polnischen Kinos nach Cannes eingeladen. Später ging er ins Ausland, lebte in Paris, London und Los Angeles. Vor einigen Jahren ist der heute 84jährige nach Polen zurückkehrt.

Als Vorlage und Inspiration für seinen Film „EO“, bislang einer der interessantesten des Wettbewerbs, diente Robert Bressons Klassiker „Zum Beispiel Balthasar“ (1966). Protagonist ist der Esel EO, mit dessen Augen wir die Welt betrachten. Wir sehen ihn zuerst in der Manege eines kleinen Zirkus und begleiten ihn weiter über verschiedene Stationen. Dabei wird der melancholische Blick des Esels zu einem Spiegel der polnischen Gesellschaft von heute. Einmal verhilft er als Maskottchen einer Fußballmannschaft zum Sieg, um später von gegnerischen Hooligans zusammengeschlagen zu werden.

Irgendwann landet EO mit einem Tiertransport in Italien. Es ist kein idyllisches, sondern ein globalisiertes, profitorientiertes Europa, das wir zusammen mit dem Esel erleben. Skolimowski arbeitet mit sparsamen Dialogen und überraschenden, ausdrucksstarken Bildern. Er verwendet rote und blaue Filter, die eine traumhafte Atmosphäre erzeugen. Während der Esel guten und schlechten Menschen begegnet, bewahrt er immer seine Unschuld. „Ich wollte einen emotionalen Film machen, dessen Geschichte vor allem über Gefühle erzählt wird“, sagt Skolimowski.


Ähnlich illusionslos ist der Blick, den der Rumäne Cristian Mungiu auf Europa wirft. Vor 15 Jahren war er zum ersten Mal in den Wettbewerb von Cannes eingeladen und gewann mit „Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage“ auf Anhieb die Goldenen Palme. Sein neuer Film mit dem kryptischen Titel „R.M.N.“, („nuclear magnetic resonance“) entwirft ein pessimistisches Bild der rumänischen Provinz. Schauplatz ist ein Dorf in Siebenbürgen, das vor allem von Mitgliedern der ungarischen und deutschen Minderheit bewohnt ist. Einer von ihnen ist Matthias, der auf einem deutschen Schlachthof gearbeitet hat und Weihnachten überraschend nach Hause zurückkehrt. Da die meisten Männer im Ausland arbeiten, heuert eine Großbäckerei Arbeiter aus Sri Lanka an. Die Anwesenheit der Migranten löst bei den Einheimischen heftige fremdenfeindliche Reaktionen aus. Nachdem man das Dorf von „Zigeunern“ gesäubert hat, will man jetzt keine anderen Dunkelhäutigen mehr tolerieren.


Es ist eine beängstigende Szenerie, die Regisseur Cristian Mungiu hier entfaltet. „Der Film ist eine Untersuchung Gehirns, eine Art MRT, um zu entdecken, was unter der Oberfläche liegt“, sagt Mungiu. Matthias’ Familie ist an seiner Abwesenheit zerbrochen, sein Sohn sieht wie in einem Traumbild den zukünftigen Tod des Großvaters, der sich im Wald erhängen wird. Seine Geliebte will ihn verlassen und nach Deutschland gehen. Armut und neuer Reichtum stehen unvermittelt nebeneinander. Die Enttäuschung derjenigen, die ökonomisch zu kurz gekommen sind, entlädt sich in Wut und Aggression. „R.M.N.“ ist ein vielschichtiger, streckenweise rätselhafter Film. In der letzten Szene tauchen ein halbes Dutzend Bären am Waldrand auf. Traum oder Realität? Tiere oder verkleidete Menschen? Man weiß es nicht.