Erweiterte Denk-, Handels- und Gefühlsräume

Anmerkungen zur 75. Ausgabe des Locarno Film Festivals 2022
Matter Out of Place (Nikolaus Geyrhalter)

Nikolaus Geyrhalter: "Matter Out of Place" (© Locarno Film Festival)


Welche Filme eignen sich für einen Kirchenkino-Anlass oder einen Filmgottesdienst? Als langjähriger Leiter von Weiterbildungen im Bereich «Film», ehemaliger Gemeindepfarrer, der mit Filmen arbeitete oder Vizepräsident von Interfilm Schweiz kann ich nicht anders, als diese Frage stets mitlaufen zu lassen, wenn ich im Kino sitze. Hilfreich zu deren Beantwortung sind sicher die Kriterien, die INTERFILM zuhanden der Juryarbeit formuliert hat: Prämierungswürdige Filme «bringen eine dem Evangelium entsprechende menschliche Haltung zum Ausdruck oder regen zur Auseinandersetzung damit an». Und weiter: Sie «sensibilisieren die Zuschauenden für spirituelle, soziale und ethische Werte». Daniel Kosch, Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) hat dies auf seine Weise eindrücklich auf den Punkt gebracht. Das Charakteristikum «guter Filme» umriss er anlässlich des diesjährigen Empfangs von SIGNIS und INTERFILM in Locarno wie folgt: «Von ihnen geht eine Kraft aus, die durchaus vergleichbar ist mit religiösen Erfahrungen, die Menschen tief berühren und nicht nur ihr Denken und momentanes Erleben, sondern ihr Lebensgefühl und ihr Handeln prägen.»

Mir selber habe ich eine etwas einfachere Formel zurechtgelegt: Besonders geeignet für die kirchliche Arbeit mit (guten) Filmen sind jene, die Perspektiven für erweiterte Denk-, Handels- und Gefühlsräume eröffnen. Wobei sie dies explizit darstellen oder provokativ gerade vom Verlust solcher Denk-, Handels- und Gefühlsräume her thematisieren können und auch so zur Diskussion anregen. Das heisst für mich dann aber auch, dass solche Filme sich durch eine gewisse Nähe zum alltäglichen Erleben heutiger Menschen auszeichnen müssen. Es braucht Anknüpfungspunkte durch die erzählte Geschichte oder die Darstellenden, die Dialoge, die Bildsprache, eine emotionale Betroffenheit oder allenfalls die Filmmusik.

Es gehört zum Spiel eines Filmfestivals, dass immer auch Filme gezeigt werden, die Zuschauende ratlos zurücklassen, und bei denen es zumindest schwierig ist, die Eröffnung "erweiterter Denk-, Handels- und Gefühlsräume" zu erkennen. Von den Beiträgen, die im Internationalen Wettbewerb liefen, gehört für mich «Human Flowers of Flesh» (Helena Wittmann, Deutschland/Frankreich 2022) dazu. Da sehen wir eine Schiffscrew über das Meer Richtung Algerien segeln, weil die eine Frau der Fremdenlegion auf die Spur kommen will. Wenn man etwas Positives über diesen Film aussagen möchte, könnte man zum Beispiel behaupten, er sei mit seinen unendlich langen Einstellungen eine Parabel für das manchmal wohl ereignislose Leben der Fremdenlegionäre auf engem Raum, fern der Heimat. Immerhin: Ein Film für Menschen, die sich in Geduld üben wollen.

Oder «Piaffe» (Ann Oren, Deutschland 2022), ein weiterer Film im Internationalen Wettbewerb, auf den ich mich hier weitgehend konzentriere: Eine Frau kreiert Geräusche für einen Werbespot mit einem Pferd (immerhin: der Soundtrack ist spannend). Schlussendlich wächst ihr ein Pferdeschwanz aus ihrem Körper, der zum erotischen Objekt mutiert. Was könnte die Botschaft sein: Wer sich zu stark in ein Engagement stürzt, verliert die nötige Distanz dazu – oder was? Vermutlich war nur ich überfordert von diesen Filmen, so dass sich niemand abschrecken lassen soll, damit in einer Kirchgemeinde zu arbeiten.

Neben den erwähnten Beispielen wurden in Locarno Filme präsentiert, mit denen ich gerne einen Kirchenkino-Anlass oder einen Filmgottesdienst gestalten würde. Dazu gehört «Matter Out of Place» (Nikolaus Geyrhalter, Österreich 2022), eine Umschreibung für «Material, das nicht dort ist, wo es hingehört». Wir werden Zeug:innen davon, wie Menschen quer über die Erde Abfall entsorgen, den andere produziert oder achtlos zurückgelassen haben. Wir werden zu Beteiligten, die sich fragen, inwiefern sie zu dieser Müllproblematik beitragen. Ab und zu glaubt man den Abfall förmlich zu riechen. Der Film verzichtet auf Kommentare und auf Hintergrundmusik. Ein zutiefst eindrücklicher Dokumentarfilm, der mit dem erstmals vergebenen «Pardo Verde WWF» ausgezeichnet wurde.


In «Sermon to the Fish» («Balıqlara xütbə», Hilal Baydarov, Aserbeidschan u.a. 2022) kehrt Davud aus dem Krieg zurück in sein Heimatdorf, in dem nur noch seine Schwester am Leben ist. Er fühlt sich überdies schuldig, weil seine Mitsoldaten offenbar wegen einer Nachlässigkeit seinerseits ums Leben gekommen sind. Als Betrachter wurde ich hin- und hergerissen zwischen Endzeitstimmung und der Perspektive auf eine neue Schöpfung. Kein einfacher Beitrag mit einem schwer zu deutenden Schluss. Der Film selber greift als Thema, das vertieft werden könnte, die Frage auf, ob Überleben Leben bedeutet.

Unter die Haut geht auch der Film «Tengo sueňos eléctricos» (Valentina Maurel, Belgien u.a. 2022). Eva wird mit Wutausbrüchen ihres Vaters konfrontiert. Die Regisseurin zeigt auf, wie allenfalls Gewalttätigkeit von Generation zu Generation weitervererbt wird. Anhand von Liebesbezeugungen für eine Polizistin, die in der Stadt an Wände gesprayt sind, wird aber auch Liebe als Alternative zu Gewalt proklamiert. Der Film erhielt verschiedene Auszeichnungen und eine Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury (mit der Begründung: «Der Film begleitet den Weg eines jungen Mädchens in einem familiären Umfeld, das geprägt ist von Brüchen, Gewalt, aber auch von Liebe»).

Schliesslich soll ein Film erwähnt werden, der auf der Piazza Grande (ausserhalb des Internationalen Wettbewerbs) gezeigt wurde: «Last Dance» (Delphine Lehericey, Schweiz/Belgien 2022). Germain, 75 Jahre alt, wird Witwer. Seine Frau war in einem Tanzprojekt involviert. Germain entschliesst sich, ungelenk wie er ist, in die Rolle seiner Frau zu schlüpfen, und wird so zum Mittelpunkt jenes Tanzensembles. Manches mag etwas klischiert wirken, etwa die Überbetreuung der (bezüglich des Tanzprojekts) ahnungslosen Söhne und Töchter Germains. Insgesamt geht man jedoch erheitert aus jenem Film. Nach etlichen anderen Produktionen wieder mal ein Film, in dem ein alter Mensch nicht dement ist oder Sterbehilfe sucht. Vielmehr erleben die Zuschauenden hier einen alten Mann voller Energie und wunderbare Szenen aus den Proben zur Vorführung, in denen Germain unerwartete tänzerische Fähigkeiten entwickelt. Nicht unerwartet wurde «Last Dance» mit dem «Prix du Public UBS» ausgezeichnet.

Es ist zu hoffen, dass die drei zuletzt erwähnten Produktionen den Weg in die Kinos der Schweiz finden werden.